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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht
Autoren: Anne Holt
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Nachmittag war. Als sie das dann endlich begriffen hatte, fing der Mann an zu schummeln. Ab und zu bekam sie dreimal hintereinander Brot.
    An diesem Tag, nachdem Kim oder Tim zu ihr hereingestolpert war, hatte der Mann eine Tomatensuppe serviert. Lauwarm, ohne Nudeln.
    Emilie versuchte, mit dem Weinen aufzuhören. Sie wollte den Jungen nicht wecken. Sie hielt den Atem an, um nicht zu zittern, aber das half nichts.
    »Mama«, schluchzte sie unbewußt. »Meine Mama.«
    Ihr Papa suchte sicher nach ihr. Er suchte jetzt schon lange. Papa und Tante Beate liefen sicher durch den Wald, obwohl es schon Nacht war. Vielleicht machte auch der Opa mit. Die Oma hatte wehe Füße und saß sicher zu Hause und las Bücher oder backte Waffeln, die die anderen essen konnten, wenn sie den Weg zum Paradies und den Himmelsbaum abgesucht hatten, ohne Emilie zu finden.
    »Mama«, sagte Kim und heulte auf.
    »Schhh!«
    »Mama! Papa!«
    Der Junge sprang auf und brüllte. Sein Mund wurde zu einem riesigen Loch. Sein ganzes Gesicht verzerrte sich zu einem einzigen großen Schrei, und sie preßte sich an die Wand und kniff die Augen zusammen.
    »Du darfst nicht schreien«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Sonst wird der Mann vielleicht böse.«
    »Mama! Ich will zu meinem Papa!«
    Der Junge bekam fast keine Luft mehr. Er rang schluchzend nach Atem, und als Emilie die Augen öffnete, sah sie, daß sein Gesicht dunkelrot angelaufen war. Aus einem Nasenloch floß Rotz. Sie nahm einen Zipfel der Decke und wischte ihn vorsichtig ab. Er schlug nach ihr.
    »Will nicht«, sagte er und schluchzte wieder. »Will nicht.«
    »Soll ich dir eine Geschichte erzählen?« fragte Emilie.
    »Will nicht.«
    Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Nase.
    »Meine Mama ist tot«, sagte Emilie und lächelte flüchtig. »Sie sitzt im Himmel und paßt auf mich auf. Immer. Sie kann auch auf dich aufpassen.«
    »Will nicht.«
    Der Junge weinte immerhin nicht mehr ganz so schrecklich.
    »Meine Mama heißt Grete. Sie hat einen BMW .«
    »Audi«, sagte der Junge.
    »Mama hat im Himmel einen BMW .«
    »Audi«, sagte der Junge noch einmal, und ein zaghaftes Lächeln ließ ihn hübscher aussehen.
    »Und ein Einhorn. Ein weißes Pferd mit einem Horn auf der Stirn, und das Pferd kann fliegen. Mama kann mit dem Einhorn überall hinfliegen, wenn sie nicht mit dem BMW fahren mag. Vielleicht kommt sie her. Ziemlich bald, glaube ich.«
    »Mit Krach«, sagte der Junge.
    Emilie wußte sehr gut, daß ihre Mama keinen BMW hatte. Sie war auch nicht im Himmel, und Einhörner gab es überhaupt nicht. Es gab gar keinen Himmel, auch wenn Papa das behauptete. Er erzählte gern von all dem, was Mama da oben hatte, all dem, was sie sich immer gewünscht und wozu immer das Geld gefehlt hatte. Im Paradies gab es alles umsonst. Es gab dort nicht einmal Geld, sagte Papa und lächelte. Mama konnte haben, was sie wollte, und Papa glaubte, es sei schön für Emilie, darüber reden zu können. Sie hatte ihm auch geglaubt, lange, und es tat gut, sich vorzustellen, daß Mama in den Ohren pflaumengroße Diamanten trug, während sie in einem roten Kleid auf ihrem Einhorn durch die Luft ritt.
    Tante Beate hatte Papa ausgeschimpft. Emilie war nicht nach Hause gekommen, weil sie einen Brief an Mama schreiben wollte, und als Papa sie endlich gefunden hatte, schimpfte Tante Beate so laut, daß die Wände wackelten. Die Erwachsenen glaubten, Emilie wäre endlich eingeschlafen. Es war schon spät in der Nacht.
    »Es wird Zeit, daß das Kind die Wahrheit erfährt, Tønnes. Grete ist tot. Schluß, aus. Ihre Asche liegt in einer Urne, und Emilie ist groß genug, um das zu verstehen. Jetzt mußt du aufhören. Du machst sie kaputt mit deinen ganzen Märchen. Damit erhältst du Grete auf künstliche Weise am Leben, und ich weiß nicht mal genau, wen du damit an der Nase herumführen willst, dich oder Emilie. Grete ist tot. TOT , ist das klar?«
    Tante Beate weinte und war gleichzeitig böse. Sie war der klügste Mensch auf der ganzen Welt. Das sagten alle. Sie war Oberärztin und wußte einfach alles über Herzkrankheiten. Sie rettete Menschen vor dem sicheren Tod, einfach, weil sie soviel wußte. Wenn Tante Beate Papas Geschichten als Märchen bezeichnete, dann hatte sie sicher recht. Einige Tage darauf war der Papa mit Emilie in den Garten gegangen, um ihr die Sterne zu zeigen. Im Himmel gab es vier neue Löcher, weil Mama sie so gern besser sehen wollte, erzählte er und zeigte nach oben. Emilie gab keine Antwort. Das
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