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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht
Autoren: Anne Holt
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Auffassung unglaublich naiv. Es ist sehr schwer, sich ein anderes Motiv für eine Kindesentführung vorzustellen – von Kindern, die einander vollkommen fremd sind, wenn wir den Zeitungen glauben können. Wir kennen Fälle aus den USA und aus der Schweiz, ganz zu schweigen von den entsetzlichen Ereignissen in Belgien, die nur wenige Jahre zurückliegen … wir wissen von diesen Fällen, und wir wissen auch, wie sie ausgegangen sind.«
    Grimsrud tippte sich an die Brust. Das führte zu einem häßlichen Knacken in dem Mikrofon, das an ihrem Revers befestigt war. Inger Johanne konnte sehen, daß sich hinter der Kamera ein Techniker die Ohren zuhielt.
    »Was meinen Sie damit, wie sie … ausgegangen sind?«
    »Ich meine das so, wie ich es sage. Bei Kindesentführungen liegt immer einer von drei Gründen vor.«
    Ihre langen Haare fielen ihr in die Augen, und Solveig Grimsrud schob sie sich hinter die Ohren, ehe sie an ihren Fingern abzählte.
    »Entweder geht es um simple Erpressung. Davon kann in unseren Fällen nicht die Rede sein. Die Familien beider Kinder besitzen kein Vermögen. Dann haben wir die bedeutende Anzahl von Kindern, die von einem Elternteil, zumeist vom Vater, nach einer Trennung dem anderen Elternteil entzogen werden. Auch das kann hier nicht der Grund sein. Die Mutter des Mädchens ist tot, die Eltern des Jungen sind weiterhin verheiratet. Also bleibt nur die letzte der Möglichkeiten. Die Kinder wurden von einem oder mehreren pädophilen Tätern entführt.«
    Der Moderator zögerte.
    Inger Johanne spürte einen nackten Kinderbauch, der sich im Halbschlaf an ihren Rücken drückte, spürte verschlafene Finger in ihrem Nacken.
    Ein Mann von Ende Fünfzig mit Pilotenbrille und gesenktem Blick holte tief Luft und redete gleichzeitig los:
    »So wie ich das sehe, ist Frau Grimsruds Theorie nur eine von vielen. Ich glaube, wir sollten …«
    »Fredrik Skolten«, fiel der Moderator ihm ins Wort. »Sie sind Privatdetektiv und waren zuvor zwanzig Jahre bei der Polizei. Wir machen unsere Zuschauer darauf aufmerksam, daß wir auch die Kripo hierher gebeten haben, von dort jedoch eine Absage bekamen. Aber Herr Skolten, Sie mit Ihrer breiten polizeilichen Erfahrung, von welchen Theorien geht Ihrer Ansicht nach die Polizei aus?«
    »Wie ich eben schon sagen wollte …«
    Der Mann fixierte einen Punkt auf der Tischplatte und rieb sich in regelmäßigen Abständen mit dem rechten Zeigefinger über den linken Handrücken.
    »Im Moment hält man sich dort wohl die meisten Möglichkeiten offen. Aber Frau Grimsrud hat sehr viel Wahres gesagt. Bei Kindesentführungen unterscheiden wir in der Regel drei Kategorien, einmal die, die sie … und die ersten beiden wirken ziemlich …«
    »Unwahrscheinlich?«
    Der Moderator beugte sich vor, wie zu einem vertraulichen Gespräch unter vier Augen.
    »Mhm, ja. Aber natürlich besteht kein Grund … nicht ohne weiteres …«
    »Die Leute müssen endlich aufwachen«, fiel Solveig Grimsrud ihm ins Wort. »Noch vor wenigen Jahren war sexueller Mißbrauch von Kindern etwas, das uns nicht betraf. Etwas, das nur in den USA passierte, weit weg. Wir ließen unsere Kinder allein zur Schule gehen, sie durften ohne Erwachsene zelten fahren, waren oft stundenlang nicht zu Hause, ohne daß wir uns davon überzeugt hätten, daß sie beaufsichtigt wurden. Es ist höchste Zeit, daß wir …«
    »Es ist höchste Zeit, daß ich mich zurückziehe.«
    Inger Johanne war sich nicht bewußt, daß sie aufgesprungen war. Sie starrte in die Kamera, diesen elektronischen Zyklopen, der mit einem leeren grauen Auge zurückstarrte und sie lähmte. Das Mikrofon war noch immer an ihrer Jacke befestigt.
    »Das hier hat doch alles keinen Sinn. Irgendwo da draußen …«
    Sie richtete den Zeigefinger gegen die Kamera.
    »… sitzt ein Witwer, dessen Tochter vor einer Woche verschwunden ist. Da sitzt ein Ehepaar. Ihr Junge wurde entführt, ihnen mitten in der Nacht weggenommen. Und hier sitzen Sie …«
    Ihr Finger zeigte zitternd auf Solveig Grimsrud.
    »… und erzählen ihnen, daß das Schlimmste geschehen ist, was man sich überhaupt nur vorstellen kann. Sie haben keinerlei, und ich wiederhole, keinerlei Grundlage, solche Behauptungen aufzustellen. Das ist gedankenlos, boshaft … unverantwortlich. Wie gesagt, ich kenne diese Fälle nur aus den Medien. Aber ich hoffe … ich bin mir sogar sicher, daß die Polizei sich nicht dermaßen in eine Theorie verbeißt, wie Sie das tun. Ich kann mir hier und jetzt
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