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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht
Autoren: Anne Holt
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sechs oder sieben andere Erklärungen für diese Entführungen vorstellen, und eine ist so gut oder schlecht wie die andere. Und auf jeden Fall ist jede davon besser untermauert als Ihr spekulatives Szenario. Der kleine Kim ist seit einem Tag verschwunden. Seit einem Tag! Ich kann Ihnen gar nicht sagen …«
    Und das war wortwörtlich wahr. Sie verstummte. Dann riß sie sich das Mikrofon vom Revers und ging. Die Kamera folgte ihr zur Studiotür, mit schwerfälligen, ungelenken Bewegungen.
    »Na«, sagte der Moderator; seine Oberlippe war schweißnaß, und er atmete durch den Mund. »Da haben wir auch das mal erlebt.«
    Irgendwo in Oslo saßen zwei Männer vor dem Fernseher. Der Ältere lächelte schwach, der Jüngere schlug mit der Faust gegen die Wand.
    »Klasse. Das hat gesessen. Kennst du die Frau? Hast du schon von ihr gehört?«
    Der Ältere, Yngvar Stubø von der Kriminalpolizei, nickte zerstreut.
    »Hab ihre Doktorarbeit gelesen. Wirklich interessant. Im Moment untersucht sie, wie die Massenmedien über Kapitalverbrechen berichten. Ich hab neulich einen Artikel gelesen, und wenn ich den richtig verstanden habe, dann vergleicht sie das Schicksalvon Verurteilten, über deren Fälle die Presse ausgiebig berichtet hat, mit dem Schicksal derjenigen, bei denen das nicht so war. Der gemeinsame Nenner ist, daß alle ihre Unschuld beteuern. Sie geht dabei weit in die Vergangenheit zurück. Bis in die fünfziger Jahre, glaube ich. Warum, weiß ich nicht.«
    Sigmund Berli grinste.
    »Die Frau hat jedenfalls Mumm in den Knochen. Ich glaube, so was hab ich noch nie gesehen. Steht einfach auf und geht. Stark. Vor allem, weil sie recht hat.«
    Yngvar Stubø zündete sich eine riesige Zigarre an, ein Zeichen dafür, daß er seinen Arbeitstag jetzt für beendet ansah.
    »Sie hat so recht, daß es richtig interessant sein könnte, sich mal mit ihr zu unterhalten«, sagte er und griff nach seiner Jacke. »Bis morgen.«

8
    Ein Kind, das sterben wird, hat keine Vorstellung vom Tod. Rein instinktiv kämpft es um sein Leben, so wie eine Eidechse ihren Schwanz opfert, wenn ihr Leben auf dem Spiel steht. Jedes Geschöpf ist genetisch aufs Überleben programmiert. Auch Kinder. Aber eine Vorstellung vom Tod haben sie nicht. Ein Kind fürchtet sich vor konkreten Dingen. Vor der Dunkelheit. Vor Fremden vielleicht, vor der Trennung von seiner Familie, vor Schmerzen, unheimlichen Geräuschen, dem Verlust eines Gegenstandes. Der Tod dagegen ist unfaßbar für ein noch nicht erwachsenes Verständnis.
    Ein Kind, das sterben wird, weiß es nicht. Das dachte der Mann, während er seine Vorbereitungen traf.
    Er goß Cola in ein Wasserglas und fragte sich, warum er sich überhaupt mit solchen Überlegungen abgab. Obwohl er den Jungen ganz bewußt ausgesucht hatte, konnte von Gefühlen zwischen ihnen nicht die Rede sein. Der Junge war ihm fremd, er war ein Stein in einem wichtigen Spiel. Er würde nichts merken. So gesehen war der Tod nur gut für den Jungen. Seine Sehnsucht nach den Eltern, ein Schmerz, den ein fünfjähriger Junge erfassen und begreifen kann, mußte schlimmer sein als ein schneller, schmerzloser Tod.
    Der Mann zerstieß ein Valium und ließ das Pulver in ein Glas rieseln. Es war eine geringe Dosis, der Junge sollte nur einschlafen. Es war wichtig, daß er sich in den Tod hineinschlief. Und leicht. Praktisch. Einem Kind eine Spritze zu geben ist ohnehin schwer genug, auch wenn es dabei nicht heult und wild um sich tritt.
    Das nachlassende Sprudeln im Colaglas machte ihn durstig. Langsam feuchtete er sich mit der Zunge die Lippen an. Ein Zittern lief durch seine Rückenmuskeln, in gewisser Weise freute er sich auf alles. Auf die Durchführung eines sorgfältig überlegten Planes.
    Es würde sechs Wochen und vier Tage brauchen, wenn alles nach diesem Plan verlief.

9
    Nur wenig wies darauf hin, daß der Mittsommer nur noch gut einen Monat entfernt war. Grauer Nebel hing über dem Sognsvann, und die Bäume waren noch immer kahl. Hier und dort zeigte eine mutige Birke schon eine Andeutung von grünen Blattspitzen, und an den Südhängen wuchs langstieliger Huflattich. Ansonsten hätte an diesem Tag auch der 14.   Oktober und nicht der 14.   Mai sein können. Eine Sechsjährige in rotem Overall und gelben Gummistiefeln riß sich die Mütze vom Kopf.
    »Nein, Kristiane. Nicht ins Wasser gehen.«
    »Laß sie doch. Sie hat ja Stiefel an.«
    »Herrgott, Isak, das Wasser ist zu tief. Kristiane! Nicht!«
    Die Kleine wollte nicht hören.
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