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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht
Autoren: Anne Holt
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Sie summte eine eintönige Melodie vor sich hin und stand schon bis über die Stiefel im Wasser. Die füllten sich mit einem gurgelnden Geräusch. Das Kind starrte leer vor sich hin und wiederholte immer wieder diese vier Töne.
    »Du bist schon ganz naß«, schimpfte Inger Johanne Vik und zog ihre Tochter an Land.
    Das Kind lächelte freundlich seine Füße an und hörte auf zu singen. Die Mutter nahm es unter den Arm und ging zu einer wenige Meter entfernt stehenden Bank. Dort zog sie aus einem Rucksack eine trockene Strumpfhose, eine Paar dicke Socken und klobige Turnschuhe. Kristiane bockte. Sie machte sich steif und preßte die Beine zusammen, ihr Blick richtete sich wieder ins Leere. Tief unten in ihrem Hals brummten dieselben vier Töne wie immer: dam-di-rum-ram. Dam-di-rum-ram.
    »Du wirst krank«, sagte Inger Johanne. »Du erkältest dich.«
    »Erkälten«, sagte Kristiane lächelnd, und ihre plötzlich wachen Augen streiften die ihrer Mutter.
    »Ja. Krank.«
    Inger Johanne versuchte, Kristianes Blick einzufangen, ihn festzuhalten.
    »Dam-di-rum-ram«, summte Kristiane und erstarrte wieder.
    »Komm. Laß mich mal.«
    Isak packte seine Tochter unter den Armen und warf sie hoch in die Luft.
    »Papa«, schrie Kristiane, und ihre Stimme überschlug sich dabei. »Mehr!«
    »Mehr, sehr wohl«, brüllte Isak und ließ die triefnassen Stiefel der Kleinen über den Boden schleifen, ehe er sie wieder in den Nebel hochwarf. »Kristiane ist ein Flugzeug!«
    »Flugzeug! Fahrflugzeug. Möwenmann!«
    Inger Johanne verstand nicht, woher sie diese Wörter nahm. Das Kind konstruierte Begriffe, die weder Isak noch sie jemals verwendeten; und andere taten das wohl auch nicht. Aber immer steckte darin eine Art Logik, eine Relevanz, die im Moment oft kaum zu erkennen war, die aber dennoch den Eindruck eines Sprachgefühls erweckte, das ganz anders war als die kurzen, einfachen Wörter, die das Kind sonst verwendete; und auch das nur, wenn es wollte.
    »Dam-di-rum-ram.«
    Die Flugreise war zu Ende. Das Lied war wieder da. Kristiane saß bei ihrem Vater auf dem Schoß und ließ sich umziehen.
    »Eiskalter Po«, sagte Isak und versetzte ihr einen leichten Klaps, ehe er ihr die trockene Strumpfhose über die Füße zog, deren Zehen sich unnatürlich kräftig zur Wölbung hin krümmten. »Kristiane ist ja überall eiskalt.«
    »Kristiane kalt. Hunger.«
    »So. Gehen wir?«
    Er stellte das Mädchen vor sich auf die Beine. Dann stopfte er die nassen Kleider in den Rucksack. Aus einer Seitentasche zog er eine Banane, schälte sie und reichte sie Kristiane.
    »Wo waren wir?«
    Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Die feuchte Luft ließ sie zusammenkleben. Er hob das Gesicht. Er hatte immer so jung ausgesehen, obwohl er nur einen Monat jünger war als sie. Verantwortungslos und ewig jung; die Haare immer eine Spur zu lang, die Kleider zu leger, zu locker für sein Alter. Inger Johanne versuchte, das vertraute Gefühl einer Niederlage zu verdrängen, diese ewige Erkenntnis, mit Kristiane nicht so gut umgehen zu können wie er.
    »Erzähl mir den Rest der Geschichte!«
    Er lächelte aufmunternd und warf den Kopf leicht in den Nacken. Kristiane war schon zehn Meter vor ihnen, mit ihrem charakteristischen wackelnden Gang, den sie längst abgelegt haben müßte. Isak legte Inger Johanne für einen Moment die Hand auf die Schulter, dann setzte auch er sich in Bewegung, langsam, als sei er sich nicht sicher, ob sie mit ihm Schritt halten könnte.
    »Als Alvhild Sofienberg den Fall genauer untersuchen wollte«, sagte Inger Johanne, die kleine Gestalt, die sich wieder dem Ufer näherte, nicht aus den Augen lassend, »da stieß sie auf unerwarteten Widerstand. Aksel Seier wollte nicht mit ihr sprechen.«
    »Ach ja? Warum nicht? Er hatte ein Gnadengesuch eingereicht, da hätte er sich doch darüber freuen müssen, daß jemand aus dem Ministerium sich ein klareres Bild machen wollte?«
    »Sollte man meinen. Ich habe keine Ahnung. Kristiane!«
    Die Kleine schaute sich um und lachte laut. Langsam drehte sie dem Wasser den Rücken zu und stapfte zum Waldrand hoch, dort hatte sie offenbar etwas entdeckt.
    »Sie ließ aber nicht locker. Alvhild Sofienberg, meine ich. Schließlich nahm sie Kontakt zum Gefängnisgeistlichen auf. Das war ein verläßlicher Mann, der fast alles auf der Welt gesehen hatte. Er war überzeugt von Seiers … Unschuld. Er auch. Das war natürlich Wasser auf Alvhilds Mühlen. Sie ließ nicht locker und wandte sich wieder an
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