Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
Korridore schlichen.
    Gedankenverloren begann er, an den Türknöpfen zu drehen. Nicht weil er in ein Büro wollte, sondern weil er sonst nichts mit sich anzufangen wußte und weil ein fester Rhythmus damit verbunden war: zwei Schritte, Hand raus, drehen; zwei Schritte, Hand raus, drehen. Wenn sich eine Tür öffnen ließ, steckte er den Kopf hinein und setzte sein bestes ›Anständiger-Bürger‹-Lächeln auf. »Verzeihung«, sagte er dann zu der verblüfften Sekretärin. »Falsches Zimmer.«
    Er fragte sich, ob es wohl einen Unterschied machte, eingesperrt oder ausgesperrt zu sein.
    Das letzte Zimmer auf der linken Seite war der Kopierraum. Unter der Türkante konnte er die neonblauen Blitze sehen. Jemand war drin und kopierte etwas. Er spielte mit dem Gedanken, hineinzugehen, sich wie ein Anwalt zu gebärden und zu warten, bis der Kopierer frei war, um dann seine Hände oder sein Gesicht zu vervielfältigen. Er hatte das früher mal gemacht, im College – seine Wangen und Lippen auf das Glas gepreßt, während der Blitz hinter seinen Augen abging wie eine Rakete. Immer neue Versuche hatte er unternommen, auf der Suche nach der perfekten Reproduktion; doch so ausdauernd er auch am Ball blieb, in Schwarzweiß hatte er immer ausgesehen wie ein Schmerzensmann.
    Er öffnete die Tür und sah zuerst niemanden, nur den Kopierer selbst, der blaue Strahlen um sich schoß, als wäre er durchgebrannt. Deshalb streckte er die Hand nach dem grünen Knopf aus und schaltete den Apparat ab – dann blickte er auf und sah Maggie.
    Sie saß oben auf dem Gerät, in einem ärmellosen schwarzen Rollpulli und Jeans; er begriff nicht, wieso sie in diesem Aufzug mitten im Januar nicht halb erfror. Seine Hände ballten sich ganz von allein zu Fäusten und lockerten sich wieder; halb bekam er mit, daß die Tür zum Kopierraum zuging und ihn einschloß. Millionen Fragen kochten in seiner Seele hoch: Vermißt du mich? Hat es weh getan? Bist du jetzt gesund? Liebst du mich? Doch zu seinem Erstaunen blieb er stumm, geknebelt von seiner Neugier.
    Statt dessen sah er sie lächeln. Wie ein Mensch, der zum allerersten Mal wahre Schönheit erlebt, labte er sich an den nach oben gezogenen Lippen und dem Mitgefühl in ihrem Blick. Er dachte: Ist sie ein Engel? Und als sie kaum merkbar nickte, grinste er. Zwischen ihnen hatte sich nichts geändert. Sie konnte immer noch seine Gedanken lesen.
    In diesem Augenblick begriff er, daß der Himmel das war, was man darin suchte – daß er für jeden anders aussah und daß man ihn manchmal dort antraf, wo man es auf keinen Fall erwartete. Er hatte so angestrengt nach Maggie gesucht, daß er sie gar nicht bemerkt hatte, wenn sie ihm erschienen war; denn da sie ohne den erwarteten Heiligenschein und den Stern in der Hand aufzutauchen pflegte, hatte er sie lediglich für eine Einbildung gehalten. Doch Maggie, seine Maggie, mit den zerrissenen Jeans und Puderzuckerspuren auf der Wange, die von einem Doughnut stammten – nun, seit Wochen hatte er sie schon so gesehen: als Phantom in einem Speiseteller bei Ellen zu Hause oder als Bild im Badezimmerspiegel, wenn er sich zu rasieren versuchte.
    »Du hast mich gefunden«, flüsterte er und ließ sich an der Wand nach unten gleiten, bis er auf dem Boden saß.
    Allie und Cam befanden sich zwei Stockwerke tiefer, wo sie am Ende des Korridors auf einer Bank hockten und darauf warteten, daß die Geschworenen ihr Urteil fällten. Allie hatte sich zusammengekauert, während in ihrem Kopf alle dramatischen Gerichtsszenen abliefen, die sie jemals im Fernsehen verfolgt hatte. Am meisten in Bann hielt sie die Szene, in der ein großer, stämmiger Wachmann Jamie in Handschellen von MacPhees Pult wegschleifte – wohin wohl, nach Attica? –, während jener sein Gesicht himmelwärts hob und verzweifelt nach Maggie schrie.
    Cam plauderte seit beinahe drei Stunden ununterbrochen über Angus' Hinterlassenschaft – als gäbe es nichts Wichtigeres zu besprechen. Etwas wegen des Hauses, das Cam für Angus gemietet hatte, als er ihn aus Schottland geholt hatte, und wegen der zukünftigen Vermietung. Sie hörte, wie Cam sich Gedanken über Mietkautionen und Immobilienmakler machte. »Darf ich dich was fragen?« sagte sie schließlich. »Wieso fängst du gerade jetzt davon an?«
    Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Weil du dann nicht ständig daran denken kannst, was die Geschworenen gerade machen«, sagte er. »Du bist so verspannt, daß es mir angst macht, neben dir zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher