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In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Jodi Picoult
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ein Abschiedsgeschenk.
    Um zehn nach fünf setzte sie sich auf ihren Klappstuhl. Sie entsann sich, von Indianerstämmen gelesen zu haben, in denen die Frauen die Macht hatten, sich von einem Mann zu trennen, indem sie einfach seine Schuhe vor ihr Tipi hinausstellten. Sie preßte die Knie zusammen und versuchte, nicht an die Sonne zu denken, die ihr in die Augen stach und ihr Kopfweh bereitete.
    Um fünf Uhr sechsundzwanzig fuhr ihr Mann vor. »Hi«, sagte er. »Es ist schnell gegangen.«
    Sie sagte nichts.
    Er warf einen Blick auf die umgedrehten Schachteln, auf den Stapel Unterwäsche links zu ihren Füßen, die leere Wäscheleine, die Kassette in ihrem Schoß. »Bist du was losgeworden?« fragte er. »Ein guter Tag für einen Flohmarkt!«
    Sie blickte ihm nicht ins Gesicht, weshalb er eigenartig seine Miene verzog und ins Haus ging. Sie zählte die Atemzüge, bis er die Treppe wieder herunter- und aus der Tür gedonnert kam, um sich vor ihr aufzubauen.
    Sein Gesicht war zornrot, und er stand genau vor der untergehenden Sonne, so daß seine Haarspitzen und die Schultern in Flammen zu stehen schienen.
    »Tut mir leid«, sagte sie kühl und stand auf. Elegant schwenkte sie die Hand über den Rasen. »Es ist nichts mehr da.« Dann klemmte sie sich die Kassette unter den Arm, ging die Einfahrt hinunter und auf die Straße. Mechanisch einen Fuß vor den anderen setzend, schlug sie die Richtung ein, die sie ins Ortszentrum führen würde, und gestattete sich keinen Blick zurück.

 E RSTER T EIL  
     
    Wer andern keine Gnade gewährt,
    wie kann er jemals Gnade erwarten?
    Edmund Spenser, The Faerie Queene
    Wer zu den Sternen aufschaut, ist sprichwörtlich
    der Gnade der Pfützen auf der Straße ausgeliefert
    Alexander Smith, Men of Letters

 
     
    Nach einiger Zeit konnte ich mir ganze Teile von dir nicht mehr ins Gedächtnis rufen, so als gehörte es mit zu der Strafe, sich nur durch einen Filter zu erinnern, der im Lauf der Zeit immer trüber wird. An manchen Sonntagmorgen, wenn ich von dir träumte, konnte ich mir nicht mehr vergegenwärtigen, wie deine Zähne ausgesehen hatten oder wie genau dein Kinn sich in meine Hand geschmiegt hatte.
    Ich habe mir immer vorgestellt, wie wir uns in ein helles kleines Restaurant setzen, vielleicht eines dieser Cafés, die mittlerweile so beliebt sind. Ich schwöre, ich konnte die Bohnenmischung riechen und die Stärke in den weißen Servietten, sogar die Seifenlotion, mit der du dich am Morgen gewaschen hattest. Ich konnte das befreite Lächeln sehen, das immer ganz unerwartet auf dein Gesicht zu träten schien … das Lächeln, aber nicht deine Zähne –, und wie deine Finger ein leichtes Stakkato gegen den Kaffeebecher klopften. Ich phantasierte keine Konversation herbei: kein Du siehst gut aus, kein Was hast du so gemacht, kein Es war die Hölle. Wie deine Zähne und die Kinnlinie blieb dieser Teil verschwommen. Ich war nicht sicher, ob wir einem bestimmten Protokoll folgen würden, wenn meine andere Hälfte aus ihrem Versteck zu mir zurückkehrte.

1
     
    In den Sekunden davor legte sie die Hand auf seinen Arm. »Was auch passiert«, sagte sie, »du darfst nicht aufhören.«
    Er drehte sich weg. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt anfangen kann.«
    Sie zog seine Hand an ihre Lippen und küßte jeden Finger einzeln. »Wenn nicht du«, sagte sie nur, »wer dann?«
    Lange blieben sie nebeneinander sitzen und starrten durch ein schlieriges Fenster auf eine Stadt, die keiner von beiden besonders gut kannte. Er beobachtete im Fensterglas den Rhythmus ihres Atems und versuchte, sein Herz so langsam schlagen zu lassen, daß sie im Gleichklang waren. Die Ruhe lullte seine Sinne ein, bis er sich schließlich nur noch auf die Uhr neben dem Bett konzentrierte. Er würde nicht blinzeln, sagte er sich, bis die nächste Minute in die vergangene eingetaucht war.
    Mit einem Zorn, der ihn überraschte, drehte er sein Gesicht ihrer Nackenbeuge zu und versuchte, diese Weichheit und diesen Duft seiner Erinnerung anzuvertrauen. »Ich liebe dich«, sagte er.
    Sie lächelte, jenes schiefe kleine Verziehen des Mundes. »Also«, gab sie zurück, »glaubst du, das wüßte ich nicht?«
    Am Ende hatte sie sich doch gewehrt. Er trug die Kratzer wie ein Brandmal. Doch er hatte ihr das Kissen aufs Gesicht gedrückt – sie beruhigt, indem er ihr etwas zuflüsterte. Mein Leben, hatte er gesagt, ich komme nach, sobald ich kann. Bei diesen Worten waren ihre Arme herabgefallen; es erfolgte die letzte Zuckung.
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