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In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Jodi Picoult
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Er hatte sein Gesicht in ihre Bluse sinken lassen und begonnen, ebenfalls ganz langsam zu sterben.
    Zum hundertsten Mal an diesem Tag schloß Cameron MacDonald, Polizeichef in Wheelock, Massachusetts, die Augen und träumte von der französischen Atlantikküste. Wenn er es richtig hinbekam – die bleierne Stille im Polizeigebäude, das Nachmittagslicht, das über die Ecke seines vernarbten Schreibtischs tanzte –, konnte er sich einbilden, keine Smith and Wesson bohre sich in seine Hüfte; vor dem Fenster läge kein Bergpaß; verdammt, vielleicht war er nicht einmal mehr Cameron MacDonald. Er öffnete seinen Geist, so weit es ging, und ließ sich in ein blaues Märchen fallen.
    Er blinzelte und hoffte auf die vorspringende Küste bei Brest oder den süßen Duft des Loiretales, den man in seiner Tasche herumtragen konnte, wenn man sich nicht allzu weit entfernte; doch statt dessen starrte er in das blasse, teigige Gesicht von Hannah, der Revier-Sekretärin. »Hier ist die Akte«, sagte sie. »Er ist angeklagt worden.« Schon wollte sie wieder hinaus, blieb dann aber, die Hand auf der Türklinke, stehen. »Sind Sie sicher, daß Sie nichts ausbrüten, Chief?« fragte sie.
    Cam schüttelte den Kopf, teils, um ihn klar zu bekommen, teils, um Hannah zu überzeugen. Er lächelte sie an, denn andernfalls, das wußte er, würde sie Allie anrufen, und eine halbe Stunde später würde seine Frau ihm einen Tee aus Nesselwurz und Minzkraut einflößen.
    Er legte die Akte auf den Tisch und warf einen sehnsüchtigen Blick auf Gall's Buying Guide, den Katalog für Polizeiausrüstung, in den er sein Reisemagazin geschoben hatte. Hannah lag gar nicht so falsch, er brütete tatsächlich etwas aus. Und zwar das gleiche wie jedes Jahr, seit er, wie man es von ihm erwartete, nach Wheelock zurückgekehrt war, um nach dem Tod seines Vaters Polizeichef zu werden. Er litt an Fernweh, verschlimmert durch die peinigende Einsicht, daß er durch etwas so Banales wie seinen Namen an diesen Ort gekettet war.
    Wheelock sah aus wie jedes andere Nest im Westen von Massachusetts: Der Ortskern bestand aus einer weißen Kirche und einer Leihbücherei, einem gemeinsamen Bau für Feuerwehr und Polizei, dem Café und Restaurant und versprengten alten Männern, die von ihren Bänken aus beobachteten, wie das Leben vorüberschlurfte. Was Wheelock von Hancock und Dalton und Williamstown unterschied, war die Tatsache, daß beinahe jede Familie in Wheelock noch in Schottland leben würde, wenn nicht eine Laune des Schicksals es anders gewollt hätte.
    Im ersten Moment fiel das nicht weiter auf. Doch dann sah man vielleicht, daß das Restaurant im Ort sein Tagesmenü nicht auf Tellern, sondern auf ›ashets‹ anbot; daß das praktische kräftige Porzellan dort mit der dicken, breiten Rose des Guten Prinzen Charlie verziert war. Oder man wohnte möglicherweise einer Hochzeit in St. Margaret bei und merkte, daß die Zeremonie noch immer mit einem Blutschwur endete. Und wenn man durch die gewundenen Nebenstraßen fuhr, würde man feststellen, daß der Name M AC D ONALD auf erschreckend vielen Briefkästen stand.
    Sollte irgend jemand einmal zufällig durch die schottischen Highlands reisen, würde ihm auffallen, daß ein kleiner, am Ufer des Loch Leven gelegener Ort namens Carrymuir das unheimlich genaue Ebenbild von Wheelock, Massachusetts, war.
    Im achtzehnten Jahrhundert galt der Clan der MacDonalds als die größte und mächtigste Sippe in Schottland, die das Gebiet von den westschottischen Inseln bis weit in die Highlands hinauf besiedelte. Ein Ableger dieses Clans lebte in Carrymuir, einem kleinen, zwischen zwei zerklüfteten Bergklippen gelegenen Ort nördlich von Glencoe. Den in Schottland wütenden Clankriegen zum Trotz war Carrymuir, dank seiner Lage ein natürliches und leicht zu verteidigendes Fort, nie eingenommen worden.
    Clan war das schottisch-gälische Wort für ›Kinder‹, und ein Clan setzte sich aus lauter Verwandten zusammen, engeren wie entfernteren, die zufällig in einem bestimmten Landstrich wohnten. Der Clanchef, ›Laird‹ genannt, bestimmte über Leben und Tod seiner Pächter und Gefolgsleute, doch war seine Herrschaft nicht ganz so unumschränkt wie die eines Königs. Schließlich setzten sich die Untertanen des Lairds aus seinen Brüdern, Neffen und Cousins zusammen. Für das Vertrauen und den Respekt, den sie ihm entgegenbrachten, schuldete er ihnen im Gegenzug Schutz und Fürsorge.
    Cameron MacDonald aus Wheelock,
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