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In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Jodi Picoult
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geschlichen, waren unter sein blaues T-Shirt geschlüpft und hatten dort leise ihre Kreise gezogen. Das war ihre Einladung. Doch Cam hatte sich nur zu ihr umgedreht, sie mit seinem Blick auf Distanz gehalten und mit seinen Fingern ihre zur Ruhe gebracht.
    »Oh!« Enttäuscht wanderte ihre Hand zurück.
    »Es hat nichts mit dir zu tun«, beschwichtigte er eilig. »Ich bin einfach kaputt.«
    Allie fragte sich, woher der Mythos stammte, daß Männer öfter Sex wollten als Frauen, denn ihrer Erfahrung nach war es genau umgekehrt. Es gefiel ihr nicht, weniger begehrenswert als ihr Mann zu sein oder immer den Anfang machen zu müssen. Manchmal machte sich Cam nicht einmal die Mühe, ihr zu erklären, daß er müde war, sondern stellte sich einfach schlafend.
    Es blieb für sie die Frage, ob er sich vielleicht anders verhielte, wenn sie eine klassische Schönheit wäre oder sexy. Sie stellte sich vor, sie bräuchte nur zehn Pfund zu verlieren, sich das Haar zu schneiden und sich zu einer unwiderstehlichen Femme fatale zu stylen – wenn Cam dann nach ihr grabschen wollte, würde sie ihm einfach den Rücken kehren!
    Vielleicht würde sie sich jemand anderen suchen.
    Und dann mußte sie jedesmal lachen, bei dem Gedanken, sie würde sich von einem anderen so berühren lassen wie von Cameron MacDonald.
    Als hätte sie die Geste heraufbeschworen, faßte Cam nach ihrem Handgelenk und streichelte mit dem Daumen darüber. Er wußte nicht, was er sonst tun sollte. Es gab Dinge, die er Allie selbst nach fünf Jahren Ehe nicht sagen konnte. Es gab Zeiten, in denen er allein sein mußte mit seinen Träumereien von einem anderen Leben, und unglücklicherweise war das oft im Dunkel der Nacht, wenn Allie mehr von ihm brauchte. Doch was sie auch denken mochte, wenn er sich von ihr wegdrehte, er zweifelte nie an seinen Gefühlen Allie gegenüber. Sie zu lieben war ein bißchen, wie sich jeden Tag im Vorortzug auf denselben Platz zu setzen – man erlaubte es sich nicht, sich die Reihe dahinter auszumalen. Man hätte schwören können, daß die Maße und Ausbuchtungen dieses Platzes eigens für einen gemacht waren: immer wieder ließ man sich mit einem Aufatmen der Zufriedenheit und Erleichterung darüber nieder, daß er noch frei war.
    Allie starrte ihn an. Wenn sie nur aufhören würde, ihn so anzusehen, mit ihren Augen seine Ausflüchte einzufangen und sie in alle Winde zu zerstreuen. Er wünschte, er könnte sie glücklich machen oder wenigstens für den Versuch soviel Zeit aufwenden wie sie für ihn. Cam bohrte die Daumen unter die Schlaufen seines schweren Patronengurts; aus dem Augenwinkel sah er ein doppelseitiges Bild des Acadia-Nationalparks. »Es tut mir leid«, sagte er.
    Nein, dachte Allie. Mir tut es leid.
    Die Frau stand hinter der Theke des Blumenladens und ließ ihre Hände über ein Durcheinander von Fächerpalmen, Engelsflügeln, irischen Glockenblumen, Heidekraut, Hafer und Wolfsmilch fliegen. Abgeschnittene Stengel bedeckten das Resopal der Theke und die schwarz-weißen Bodenfliesen. Einen Augenblick blieb Allie entsetzt in der Tür ihres eigenen Geschäfts stehen und beobachtete eine Fremde, die ihre Arbeit tat. Dann richtete sie den Blick auf den Strauß rechts neben der Registrierkasse.
    Er war glockenförmig und perfekt, ein empfindsamer Farbbogen aus sämtlichen Grünschattierungen, die Allie im Kühlregal lagerte. An zwei Stellen leuchtete hinter Grasfedern in blutend roten Tupfern die grelle Buntwurz hervor.
    Allie trat einen Schritt vor, worauf die Frau einen Satz zurück machte und sich mit der Hand an die Kehle fuhr.
    »Das ist mein Platz!« bellte Allie.
    Die Frau lächelte unsicher. »Dann«, sagte sie, »verschwinde ich lieber.« Hastig sammelte sie die Gerätschaften zusammen, die sie aus dem Hinterzimmer stibitzt hatte, und ließ in ihrer Eile eine Schere auf den Boden fallen. »Verzeihung«, murmelte sie und tauchte hinter dem Arbeitstisch unter, um sie aufzuheben. Dann kam sie wieder hervor und streckte Allie die Schere hin wie ein Friedensangebot.
    Es war das Anmaßendste, was Allie je erlebt hatte – daß eine Fremde in ihren Laden spazierte und ihren eigenen Strauß band –, dennoch schien diese Frau mit den Schatten zu verschmelzen, so als wäre alles nur ein Irrtum gewesen, und sie hätte nichts dagegen unternehmen können. Allie warf einen Blick auf die pflaumenfarbene Baskenmütze auf dem Haar der Dame, auf die abgekauten Nägel, den schweren Rucksack, der an ihrem rechten Fuß lehnte. Sie war
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