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In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Jodi Picoult
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setzte sich, und an Grahams Seite ließ Jamie den Atem entweichen, den er so lange angehalten hatte.

 
     
    Natürlich lautet meine hartnäckigste Frage: Was wäre, wenn wir uns irgendwann einmal begegnen würden, nun, nachdem du deinen Weg gewählt hast und ich meinen?
    Ich stelle mir gern vor, daß wir dann zusammen essen geben und daß ich auch nach so langer Zeit für dich bestellen und deinen Geschmack treffen würde. Aber es sind weniger diese Einzelheiten, die mich beschäftigen. Würde ich Bilder von meinen Kindern aus meiner Brieftasche holen und sie dir zeigen? 'Würdest du beim Reden ganz unbewußt mit dem Ehering an deinem Finger spielen?
    Vielleicht würden wir darüber sprechen: über deine Flucht. Ich bin überzeugt, du hast geglaubt, wegzugehen würde dich befreien; bestimmt hast du deinen Irrtum inzwischen erkannt. Selbst wenn du dich dem Menschen entziehst, der dich festhält – solange dieser Mensch glaubt, du gehörst ihm, wirst du ihm gehören.

23
     
    Jeder Mann wächst mit seiner Verantwortung. Jede Frau auch.
    Jamie musterte die Gesichter der Geschworenen, während sie den letzten Anweisungen von Richter Roarke lauschten, um sich danach zur Beratung zurückzuziehen. Jeder einzelne – selbst der ergraute alte Kerl, der wie eine Schildkröte aussah, und die rundschultrige Frau mit der miserablen Haartönung – schien zehn Zentimeter gewachsen zu sein. Jeder einzelne widmete seine ganze Aufmerksamkeit der dröhnenden Stimme des Richters; und Jamie begriff, daß die Männer und Frauen vor ihm, Schmetterlingen gleich, die aus ihrer Puppe schlüpfen, nicht mehr dieselben Männer und Frauen waren, die er während der vergangenen zwei Wochen kennengelernt und durchschaut zu haben meinte.
    Kein einziger Geschworener blickte zu ihm herüber. Er fragte sich, ob das auf ein schlechtes Gewissen zurückzuführen war, auf Ekel oder nur darauf, daß sie nichts verraten wollten. Wie viele unter den zwölfen hatten wohl ihre Entscheidung bereits gefällt, für wie viele war die geheime Beratung nur noch eine Formalität?
    Richter Juno Roarke dankte ihnen für ihre Mühe und Geduld während des Prozesses. Dann räusperte er sich und ließ seinen Blick über die Männer und Frauen wandern, während er ihre Pflichten dem Gericht gegenüber umriß. »In diesem Staat«, erklärte er, »wird vorsätzlicher Mord als Mord aus niedrigen Beweggründen definiert.« Er hielt inne und ließ das einwirken. »Damit ein solches Urteil gefällt werden kann, muß die Anklage bewiesen haben, daß der Angeklagte seine Tat mit Vorbedacht, aus freiem Willen und mit Überlegung begangen hat. Der Anklage obliegt die Pflicht zu beweisen, daß der Angeklagte all diese Voraussetzungen erfüllt – ohne den leisesten berechtigten Zweifel.« Der Richter erläuterte ausführlich die Bedeutung dieser Rechtsbegriffe. »Wenn Sie nach Anhörung aller Beweise und nach der Berücksichtigung der von mir erläuterten Richtlinien und Rechtsgrundsätze doch noch einen berechtigten Zweifel daran hegen, daß der Angeklagte des ihm zur Last gelegten Verbrechens schuldig ist, müssen Sie ihn von der erhobenen Anklage freisprechen. Wenn Sie andererseits der Meinung sind, daß seine Schuld hinreichend bewiesen ist und keinerlei berechtigter Zweifel mehr besteht, muß er schuldig gesprochen werden.« Er holte tief Luft. »Schließlich können Sie, wenn Ihnen die vorgebrachten Anklagepunkte nicht zutreffend erscheinen, den Angeklagten eines geringeren Vergehens schuldig sprechen – in diesem Fall eines vorsätzlichen Totschlags – worunter man den mit Absicht zugefügten Tod eines Menschen versteht, während der Täter unter einer extremen emotionalen Störung leidet.«
    Graham wandte sich an Jamie und lächelte. Die Geste wirkte gezwungen.
    »Die Verteidigung«, erläuterte Richter Roarke, »behauptet andererseits, daß der Angeklagte freizusprechen sei, weil er zum Zeitpunkt der Tat vorübergehend unzurechnungsfähig gewesen ist. Die gesetzliche Definition von Unzurechnungsfähigkeit besagt, daß der Angeklagte zur Tatzeit die Natur und das Wesen seiner Handlung nicht begreifen konnte.«
    Jamie sah, wie einer der Geschworenen – der Künstler, den er auf seiner Seite gehabt zu haben glaubte – zustimmend nickte.
    »Wenn Sie der Überzeugung sind, daß dies der Fall ist«, fuhr Roarke fort, »müssen Sie weiterhin entscheiden, ob der Angeklagte inzwischen die Tragweite seiner Tat begreift.« Er nickte mit dem Kopf, als sei er mit sich selbst
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