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In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
Autoren: Jodi Picoult
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unterhalten.«
    »Ja, offenbar.«
    »Haben Sie dabei über die fragliche Nacht gesprochen?«
    »Ja.«
    »Über die Krankheit seiner Frau?«
    »Kurz.«
    »Haben Sie die Aussichten für eine Gesundung erwogen?«
    »Ich kann mich nicht erinnern.«
    Inzwischen war Graham so nahe an den Zeugen herangetreten, daß der sich unter der Wucht der Fragen zurücklehnen mußte. »Haben Sie eingehend die Beziehung der beiden erforscht?«
    »Soweit das möglich war«, meinte der Doktor abwehrend.
    Graham pfiff lange durch die Vorderzähne. Dann stopfte er beide Hände in die Taschen. »Das heißt, Sie haben das alles in achtzehn Minuten besprochen? Und Sie fühlen sich aufgrund dieser zweifellos tiefschürfenden Unterhaltung mit Jamie befähigt, ein Urteil über seine geistige Verfassung abzugeben?«
    Roanoke Martin reckte das Kinn vor. »Durchaus«, erklärte er.
    »Ist es nicht so, daß Sie Jamie an jenem Tag zugehört haben und seine Antworten sowie seine Gefühlslage an jenem Tag in Betracht zogen – Ihre Schlußfolgerung über seine geistige Verfassung daher auf dem beruht, was Sie an jenem neunzehnten Dezember feststellten? «
    »Also«, sagte Martin, »natürlich spielte das eine …«
    »Keine weiteren Fragen.«
    Graham kehrte an seinen Platz zurück.
    Es war Freitag, und alle Juristen wußten, daß Juno Roarke gern so früh wie möglich aus dem Gericht kam, um zum Hunderennen zu fahren; darum überraschte es niemanden, daß der Richter die Geschworenen entließ und verkündete, die Schlußplädoyers würden am Montagmorgen beginnen. Wie gesagt – keine Überraschung, nur eine Enttäuschung.
    Graham schaufelte die Akten in seinen Koffer. Jamie saß immer noch neben ihm. »Jetzt ist die Show vorbei?« fragte er.
    »Genau«, sagte Graham. Die Schlußplädoyers zählten nicht.
    Außerdem hatte die Anklage sowieso das letzte Wort. »Ich wünschte nur, er hätte heute nicht abgebrochen. Jetzt müssen Sie das ganze Wochenende lang schwitzen.«
    Jamie zuckte mit den Achseln. Er sagte nichts, doch Graham wußte, was ihm durch den Kopf ging. Noch ein Wochenende in Freiheit.
    »Kommen Sie allein nach Wheelock?« fragte Graham.
    Jamie nickte. Er wünschte Graham einen schönen Sonntag. Dann drehte er sich um. Die meisten Zuschauer waren schon vor ein paar Minuten aus dem Gerichtssaal verschwunden, Allie und Cam nirgendwo zu sehen. Ellen saß ganz allein auf der Bank hinter ihm.
    »Ach, du bist noch da!« Er lächelte sie an.
    »Ich versuche, ein Gespür für den Raum zu entwickeln, und dazu muß es still sein«, erläuterte sie. »Du weißt schon, ob es ein positiver oder ein negativer Ort ist.«
    Jamie schwang ein Bein über das Absperrgitter. »Vermutlich hängt das davon ab, ob du Staatsanwältin oder Angeklagter bist«, meinte er leise.
    »Und«, Ellen legte ihm eine Hand aufs Knie, »was willst du machen, wenn der Spuk vorbei ist?«
    Sie sah ihn mit so gespannter Erwartung an, daß Jamie fast lachen mußte. »Ich fahre nach Disney World«, jubelte er und setzte ganz über das Geländer, so daß er neben Ellen stand. Dann ließ er sich auf ihre Bank sinken und rieb sich die Augen. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.«
    »Und«, insistierte Ellen, »was würdest du gern machen?«
    Er dachte darüber nach. Arbeiten wollte er nicht; im Moment konnte er sicher nicht besonders gut programmieren, solange er nicht einmal seinen eigenen Kopf unter Kontrolle bekam. Und er hatte keine große Lust, nach Cummington zurückzukehren. Vor allem hatte er Maggie in Wheelock getötet, weil er die Tat nicht mit ihrem gemeinsamen Erinnerungsort in Verbindung bringen wollte. Komisch, damals hatte er tatsächlich geglaubt, er könnte dem entrinnen.
    »Ich würde gern durch alle fünfzig Bundesstaaten reisen«, sagte er zu seiner Überraschung. »Oder vielleicht an die Westküste ziehen und dort ganz von vorn anfangen.« Er hörte sich eine Idee nach der anderen aufzählen und die Gedanken nur so aus sich heraussprudeln. Ellen legte ihm die Hand auf die Schulter.
    Jamie redete über eine Stunde, den Blick starr geradeaus, Ellen an seiner Seite. Und je weiter sich die Vorstellungen in seinem Kopf entwickelten, desto realer wurden sie, bis er sich wirklich durch die Black Hills wandern, Bären zähmen oder zehnmal alle Neune kegeln sah. Er blies seine Zukunft immer weiter auf. Ihm kam gar nicht der Gedanke, wie sehr er einem kleinen Kind glich, das seine Zuversicht auf der Hoffnung gründete, eines Tages Präsident, Schauspieler oder
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