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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis
Autoren: Jon Krakauer
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Streifen, der sich von Osten nach Westen durch die Landschaft zieht.
    Billie McCandless sitzt vorne, Walt und ich auf dem Rücksitz. Seit Sam McCandless an ihrer Haustür in Chesapeake Beach auftauchte, um ihnen mitzuteilen, daß Chris nicht mehr lebt, sind zehn schwere Monate vergangen. Walt und Billie wollten den Ort, an dem ihr Sohn sein Leben ließ, mit eigenen Augen sehen, und sie fanden, daß nun die Zeit reif war.
    Walt hat die letzten zehn Tage in Fairbanks verbracht. Im Auftrag der NASA wird dort ein in Suchflugzeugen einzubauendes Radarsystem entwickelt, das es ermöglichen soll, ein abgestürztes Flugzeug inmitten eines dichtbewaldeten, Tausende von Hektar großen Gebietes zu finden.
    Seit einigen Tagen wirkt er fahrig, nervös und gereizt. Billie, die vor zwei Tagen in Alaska ankam, erzählte mir im Vertrauen, daß Walt sich mit der Vorstellung, den Bus aufzusuchen, bis zum Schluß nicht anfreunden konnte. Zu meiner Überraschung sagt sie, daß sie sich gut fühlt und gelassener Stimmung ist, ja, daß sie sich schon seit geraumer Zeit auf diese Reise freue.
    Daß wir im Hubschrauber zu dem Bus fliegen, hatte sich erst in letzter Minute ergeben. Billie wollte unbedingt auf dem Landweg dorthin kommen und dem Stampede Trail folgen, so wie Chris es getan hatte. Sie hatte sich zu diesem Zweck mit Butch Killian in Verbindung gesetzt, dem Bergarbeiter aus Healy, der dabeigewesen war, als man Chris' Leiche entdeckt hatte. Killian erklärte sich bereit, Walt und Billie in seinem Argo zu dem Bus zu fahren. Gestern jedoch rief er sie in ihrem Hotel an und sagte ihnen, daß der Teklanika immer noch sehr hoch stehe - zu hoch, wie er befürchtete, um ihn gefahrlos durchqueren zu können, nicht einmal in seinem achträdrigen Amphibienfahrzeug. Daher der Hubschrauber.
    Siebenhundert Meter unterhalb der Kufen des Helikopters überzieht ein fleckig - grünes Tweedmuster aus Sümpfen und Fichtenwäldern die hügelige Landschaft. Der Teklanika wirkt wie ein langes braunes, achtlos hingeworfenes Band. In der Nähe des Zusammenflusses von zwei kleineren Bächen rückt ein unnatürlich grelles Objekt ins Blickfeld: Bus Nr. 142, Fairbanks. Fünfzehn Minuten für eine Strecke, die Chris vier Tage kostete.
    Der Hubschrauber setzt geräuschvoll auf dem Boden auf. Der Pilot stellt den Rotor ab, und wir springen auf den sandigen Boden. Gleich darauf hebt die Maschine in einem orkanartigen Luftstrudel wieder ab. Eine majestätische Stille umgibt uns. Walt und Billie stehen zehn Meter vom Bus entfernt und fixieren stumm das absonderliche Gefährt. In einer Zitterpappel zwitschert ein Eichelhähertrio.
    »Er ist kleiner«, sagt Billie schließlich, »als ich ihn mir vorgestellt habe. Ich meine den Bus.« Und dann, während sie sich umsieht: »Wie schön es hier ist. Es erinnert mich so sehr an zu Hause, ich meine, wo ich aufgewachsen bin. O Walt, hier sieht es genauso aus wie auf der Upper Peninsula! Chris muß sich hier wirklich wohl gefühlt haben.«
    »Ich habe wirklich keinen Grund, Alaska zu mögen, o. k. ? « antwortet er finster. »Aber es stimmt - es ist auf eine seltsame Art und Weise schön hier. Ich kann mir gut vorstellen, warum es Chris hier gefiel.«
    Die nächste halbe Stunde umkreisen Walt und Billie schweigend das klapprige, rostige Gefährt, schlendern ans Ufer des Sushana River und spazieren ein wenig im Wald umher.
    Billie betritt als erste den Bus. Als Walt vom Fluß zurückkehrt, sitzt sie auf der Matratze, auf der Chris starb, und nimmt das schäbige Innere des Busses in Augenschein. Lange blickt sie stumm auf die Wanderstiefel ihres Sohnes unter dem Ofen, seine Schrift auf den Wänden und auf seine Zahnbürste. Sie weint nicht, heute nicht. Sie untersucht das Durcheinander auf dem Tisch und beugt sich schließlich vor, um sich einen Löffel mit einem eigenartigen Blumenmuster auf dem Stiel genauer anzusehen.
    »Walt, sieh nur«, sagt sie. »Das ist noch von dem Besteck, das wir in unserem Haus in Annandale hatten.«
    Im Vorderteil des Busses hebt Billie eine von Chris' zerschlissenen, geflickten Jeans auf. Sie schließt die Augen und drückt sie sich ans Gesicht. »Riech nur«, drängt sie ihren Mann mit einem schmerzerfüllten Lächeln. »Sie riechen immer noch nach Chris.« Nach einem langen, bewegenden Moment sagt sie, mehr zu sich selbst: »Er muß am Ende sehr tapfer und stark gewesen sein, daß er nicht selbst Schluß gemacht hat.«
    Billie und Walt gehen die nächsten zwei Stunden in dem Bus ein und aus.
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