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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis
Autoren: Jon Krakauer
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geistiger Erschöpfung. Die Haut verfärbt sich. In Ermangelung elementarer Nährstoffe kommt es im Gehirn zu einem starken chemischen Ungleichgewicht, das Schüttelkrampf und Halluzinationen hervorruft. Etliche Menschen, die kurz vor dem Hungertod noch gerettet werden konnten, berichten jedoch, daß das Hungergefühl gegen Ende verschwindet. Der schreckliche Schmerz löst sich auf und macht einer großen Euphorie Platz, einer tiefen inneren Ruhe, begleitet von einer geradezu übernatürlichen geistigen Klarheit. Ob McCandless eine ähnliche Verzückung gewährt war, wissen wir natürlich nicht. Wir können es nur hoffen.
    Am 12. August schrieb er in sein Tagebuch: »Wunderschöne Blaubeeren.« Es war sein letzter Eintrag. Vom 13. bis 18. August wird in seinem Tagebuch nur noch eine Strichliste der einzelnen Tage geführt. In jener Woche riß er die letzte Seite aus Louis L'Amours Memoiren, »Education of a Wandering Man«, heraus. Es war eine Seite mit ein paar Versen, die L'Amour aus Robinson Jeffers' Gedicht »Wise Men in Their Bad Hours« zitiert hatte:
    Der Tod ist ein grimmiger Wiesenstärling: aber zu sterben Und den Jahrhunderten mehr gegeben zu haben Als Knochen und Muskeln, heißt vor allem, eine Schwäche abstreifen.
    Die Berge sind toter Stein, die Menschen Bewundern oder verabscheuen ihre Größe, ihr unverschämtes Schweigen, Die Berge sind weder besänftigt noch aufgewühlt Und die Gedanken ein paar toter Männer sind vom gleichen Temperament.
    Auf der leeren Rückseite schrieb McCandless ein kurzes Lebewohl:
    »ICH HABE EIN GLÜCKLICHES LEBEN GELEBT UND BIN GOTT VON GANZEM HERZEN DANKBAR. LEBT WOHL, UND GOTT SEGNE EUCH ALLE!«
    Dann kroch er in den Schlafsack, den seine Mutter ihm genäht hatte, und versank in Bewußtlosigkeit. Er starb wahrscheinlich am 18. August, einhundertzwölf Tage nachdem er in die Wildnis gekommen war, neunzehn Tage bevor sechs Alaskaner an dem Bus vorbeikamen und den Leichnam entdeckten.
    Kurz vor dem Ende machte er noch ein Foto von sich. Er steht unter einem strahlenden alaskanischen Himmel neben dem Bus. Mit der einen Hand hält er seine letzte Botschaft in die Kamera, die andere ist zu einem tapferen, seligen Lebewohl gehoben. Sein Gesicht ist erschreckend abgemagert, einem Totenkopf ähnlich. Aber falls er sich in jenen letzten, schwierigen Stunden selbst bemitleidet haben sollte - weil er so jung war und so allein, weil sein Körper und seine Willenskraft ihn im Stich gelassen hatten - , so ist auf dem Foto jedenfalls nichts davon zu erkennen. Er lächelt, und der Blick in seinen Augen läßt keinen Zweifel zu: Chris McCandless war mit sich selbst in Frieden. Er strahlt die heitere Gelassenheit eines Mönchs aus, der zu seinem Herrn aufsteigt.

Epilog

    Und dennoch, die letzte, wehmütige Erinnerung streift umher und zieht bisweilen wie eine Nebelschwade vorüber. Die Sonne verschwindet, erkaltet ist die Erinnerung an glücklichere Zeiten. Es gab Glücksmomente, die zu schön waren, um sie zu beschreiben, und Leidensmomente, die ich tapfer erduldet habe. Und in diesem Sinne sage ich: Geht auf die Berge, wenn ihr wollt, aber bedenkt, daß euch Mut und Kraft ohne Klugheit nichts nützen werden und daß eine kleine Unaufmerksamkeit euch euer Lebensglück kosten kann. Nehmt euch Zeit für jeden Schritt und denkt von Anfang an ans Ende.
    EDWARD WHYMPER,
 »SCRAMBLES AMONGST THE ALPS«
       
    Wir schlafen zu dem ewigen Leierspiel der Zeiten, wir wachen, wenn überhaupt, beim Schweigen Gottes. Und dann, wenn wir an den festen Pfeilern der ungeborenen Zeiten wachen und die erregende Dunkelheit über die weiten Hügel der Zeit hereinbricht, dann wird es Zeit, die Dinge in Bewegung zu bringen, wie zum Beispiel unsere Vernunft und unseren Willen; dann wird es Zeit, uns davonzumachen, und zwar nach Hause.
    Es gibt keine Ereignisse, nur Gedanken und das heftig klopfende Herz, das Herz, das so beschwerlich lernt, wo es lieben soll und wen. Der Rest ist nichts als Geschwätz und Geschichten für andere Zeiten.
    ANNIE DILLARD,
 »HOLY THE FIRM«
      
      
    Der Helikopter schraubt sich über den Felsvorsprung des Mount Healy in die Höhe, Tschock-tschock-tschock. Als der Höhenmesser fünfzehnhundert Meter streift, heben wir uns über einen schlammfarbenen Gipfelgrat hinaus. Die Erde unter uns verliert immer mehr an Kontur, und ein atemberaubendes Panorama der Taiga erfüllt die Plexiglas - Windschutzscheibe. In der Ferne entdecke ich den Stampede Trail, einen dünnen, gekrümmten
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