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In die Wildnis

In die Wildnis

Titel: In die Wildnis
Autoren: Jon Krakauer
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zu seiner Vergiftung geführt habe.
    Nachdem sie zu sprießen begonnen haben, sind Kartoffelsamen in der Tat leicht giftig. Sie enthalten Solanin, ein Gift, das in der Familie der Nachtschattengewächse recht häufig vorkommt. Solanin verursacht kurzfristiges Erbrechen, Durchfall, Kopfschmerzen und Schlafsucht mit Bewußtseinsstörungen. Wenn die Samen dem Körper über einen längeren Zeitraum zugeführt werden, können sie Herzrhythmusstörungen und Probleme mit dem Blutdruck verursachen. Diese Theorie hat jedoch einen Haken: Kartoffelsamen entfalten nämlich nur dann ihre verheerende Wirkung, wenn mehrere Kilo davon verspeist werden. Bedenkt man jedoch, wie leicht McCandless' Gepäck war, als Gallien ihn absetzte, so ist es höchst unwahrscheinlich, daß er, wenn überhaupt, mehr als nur ein paar Gramm dabei hatte.
    Andere Deutungen der Geschehnisse, in denen es ebenfalls um Kartoffelsamen, allerdings einer ganz anderen Art, geht, klingen da schon plausibler. Auf Seite 126/127 der »Tanaina - Pflanzenkunde« wird eine Pflanze beschrieben, die die Dena'ina - Indianer »Wilde Kartoffel« nennen und deren karottenähnliche Wurzel sie sammeln. Bei der Pflanze handelt es sich um eine Trichterwinde, die Botanikern als Hedysarum alpinum bekannt ist. Sie wächst auf steinigem Grund und ist in der gesamten Region anzutreffen.
    Dem Pflanzenkundebuch zufolge ist »die Wurzel der Wilden Kartoffel vermutlich das wichtigste Nahrungsmittel der Dena'ina, abgesehen von wildwachsenden Früchten. Die Dena'ina essen sie auf verschiedene Art - roh, gekocht, gebacken oder gebraten - und tunken sie bevorzugt in Öl oder Schmalz, womit sie sie auch konservieren.« In dem Zitat heißt es weiter, daß die beste Zeit, um Wilde Kartoffeln zu stechen, »der Frühling ist, wenn der Boden auftaut... Im Sommer trocknen sie offenbar aus und werden hart«.
    Priscilla Rüssel Kari, die Autorin der »Tanaina - Pflanzenkunde«, erklärte mir, daß »der Frühling für das Dena'ina - Volk die härteste Jahreszeit ist, früher noch viel mehr als heute. Das Wild, auf das ihre Ernährung baute, war oft rar, oder die Fische kamen später als erwartet. Deshalb blieb ihnen oft nur die Wilde Kartoffel als Hauptnahrungsmittel, bis im Spätfrühling endlich die Fische kamen. Sie schmeckt sehr süß. Sie war - und ist heute noch - eine ihrer Leibspeisen.«
    Über der Erde wächst sich die Wilde Kartoffel zu einem buschigen Strauch aus. Sie kann über einen halben Meter hoch wachsen, und an ihren Stengeln sprießen zarte rosafarbene Blüten, die wie kleine Gartenwicken aussehen. Auf seine Lektüre von Karis Buch hin begann McCandless am 24. Juni damit, Wurzeln der Wilden Kartoffel zu stechen und zu essen, anscheinend ohne Schaden zu nehmen. Am 14. Juli begann er damit, auch die erbsengroßen Samentriebe der Pflanze zu essen, vermutlich weil die Wurzeln mittlerweile zu hart und zäh waren. Ein Foto, das er in jenen Tagen schoß, zeigt eine große Plastiktüte, die bis zum Rand mit diesen Samen gefüllt ist. Und dann, am 30. Juli, folgt in seinem Tagebuch die Eintragung:
    »Extrem schwach. Wegen Kart. - Samen...«
    In Karis Pflanzenkundebuch wird auf der Seite nach der Beschreibung der Wilden Kartoffel eine eng verwandte Spezies abgehandelt, die wildwachsende Gartenwicke, Hedysarum mackenzij. Obwohl die Pflanze etwas kleiner ist, sieht sie der Wilden Kartoffel zum Verwechseln ähnlich, und selbst ausgewiesene Botaniker finden es oft schwierig, die beiden Pflanzen auseinanderzuhalten. Es gibt nur ein einziges unterscheidendes Merkmal, das absolut verläßlich ist: Die Unterseite der kleinen grünen Blättchen der Wilden Kartoffel ist von deutlich sichtbaren, seitlich verlaufenden Äderchen durchzogen. Auf den Blättern der Gartenwicke fehlen solche Äderchen.
    Karis Buch warnt den Leser ausdrücklich vor der wildwachsenden Gartenwicke. Da diese ausgesprochen schwer von der Wilden Kartoffel zu unterscheiden »und angeblich giftig ist, sollte man bei der Bestimmung der beiden Pflanzen sehr sorgfältig vorgehen. Erst dann darf die Wilde Kartoffel zu Ernährungszwecken herangezogen werden.« Der modernen medizinischen Fachliteratur sind keine Berichte über Vergiftungserscheinungen an Menschen bekannt, die auf das Verspeisen der H. mackenzij zurückzuführen wären. Die Ureinwohner Alaskas und Kanadas scheinen jedoch seit Menschengedenken gewußt zu haben, daß die Gartenwicke toxisch ist. Sie verwenden auch heute noch große Sorgfalt darauf, die H. alpinum nicht mit
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