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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung
Autoren: Gianrico Carofiglio
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mir vorstellen, dass es für alles einen Grund gibt.«
    »Nicht unbedingt. Es gibt auch reine Zufälle.«
    Der Doktor lächelte während dieser Worte. Roberto meinte, in diesem Lächeln eine Anspielung wahrzunehmen, so als gäbe es da noch etwas, das beide wussten und das daher nicht ausgesprochen werden musste.
    »Wie geht es Ihnen heute?«
    »Gut.« Der Klang dieses Wortes kam ihm in dem Moment, in dem er es aussprach, ungewöhnlich vor. Als habe es eine neue Bedeutung gewonnen.
    »Ich meine, besser. Seit einigen Nächten schlafe ich mindestens sechs Stunden durch, manchmal sogar länger; heute und gestern habe ich jeweils nur fünf Zigaretten geraucht. Ich mache weiter meine Spaziergänge, und … ach, das habe ich Ihnen noch gar nicht erzählt: Ich treibe wieder Sport.«
    »Na, das ist aber eine gute Nachricht. Welchen Sport treiben Sie denn?«
    »Nichts Besonderes. Ein bisschen Gymnastik, ein bisschen Gewichte.«
    Dann fragte er den Doktor, ohne zu wissen, warum, ob er auch Sport trieb.
    »Karate, seit der Universität. Ich habe damals damit angefangen, weil mir ein Typ bei einem blöden Streit um einen Blechschaden die Nase gebrochen hat. Ich wollte lernen, wie man sich prügelt.«
    Roberto war überrascht über diese unerwartete Vertraulichkeit.
    »Und, haben Sie es gelernt?«
    »Wie man sich prügelt?«
    »Ja.«
    »Ich weiß nicht … Ich bin nie wieder in so einen Streit geraten. Sie wissen, wie man sich prügelt, nehme ich an.«
    Er zog die Schultern zusammen. Manchmal hat er ausgeteilt und andere Male eingesteckt, in seiner Jugend. Als Carabiniere hat er Festnahmen erlebt, bei denen der Verhaftete Widerstand leistete, und manchmal musste man in der Kaserne einen allzu lebhaften Neuzugang ruhigstellen. Ein paar Mal war es auch nötig gewesen, jemanden zum Reden zu bringen, ohne Zeit zu verlieren. Er hatte jetzt ganz deutlich das Gesicht eines Jungen vor Augen, der mit ein paar Tütchen Heroin aufgegriffen worden war. Er behauptete, den Namen desjenigen, der es ihm gegeben hatte, nicht zu wissen, und hatte sich damit ein paar Ohrfeigen eingefangen. Vielleicht einige zu viel. Irgendwann hatte er angefangen zu schluchzen. Ich habe doch nichts Böses getan, sagte er immer wieder. Er sah das weinende Gesicht dieses Jungen vor sich, und ein jäher Anfall von heftiger Scham packte ihn, als sei diese Behandlung unerträglich feige gewesen.
    »Bevor wir weitermachen, wollte ich Ihnen noch etwas sagen.«
    »Was denn?«, fragte Roberto.
    »Es geht Ihnen besser, das wissen wir beide. Wir können die Medikamente bald reduzieren. Allerdings bitte ich Sie, nicht die Eigeninitiative zu ergreifen, denn das könnte gefährlich sein.«
    »Ich hatte auch schon daran gedacht. Dass man reduzieren könnte, meine ich. Könnte man nicht …«
    »Bald. Aber Sie brauchen nicht zu befürchten, süchtig zu werden. In Ihrem Fall besteht kein Risiko.«
    »Warum nicht?«
    »Weil Sie Angst haben, süchtig zu werden. Das ist die beste Vorbeugung.«
    Er erklärte ihm, dass das Risiko einer Abhängigkeit am größten bei Personen war, die sicher sind, eine Situation im Griff zu haben. Die glauben, jederzeit aufhören zu können zu trinken, zu rauchen, Drogen zu konsumieren, um Geld zu spielen.
    Roberto fiel das Kokain wieder ein. Die feine Beschaffenheit, die Farbe – weiß bis rosa –, der leichte Geruch nach Medizin. Er sah es so deutlich vor sich, als läge das Pulver vor ihm auf dem Schreibtisch des Doktors. Eine Erinnerung wie eine Ohrfeige.
    Er versuchte, die Erinnerung zu verscheuchen, und dann nickte er. Er würde die Dosierung der Medikamente nicht eigenmächtig ändern.
    »Wollen Sie mir jetzt erzählen, was passierte, nachdem man Sie beim … Wie nennt man diese Einheit, zu der Sie einberufen wurden?«
    »Sonderkommission.«
    »Welche Aufgaben hat so eine Sonderkommission?«
    »Dieselben wie eine Einsatztruppe. Das bedeutet, dass sie für die Kriminalpolizei arbeitet, bei Ermittlungen. In einer Stadt wie Mailand ist sie in Kommissionen eingeteilt. Raub, Mord, organisiertes Verbrechen, Ermittlungen bei öffentlichen Stellen. Und Betäubungsmittel.«
    »Und welcher Kommission wurden Sie zugeteilt?«
    »Ich war erst etwa zwei Jahre bei der Raubkommission und kam dann zu den Betäubungsmitteln.«
    »Wieso das?«
    »Da gab es mehr zu tun, daher brauchten sie mehr Personal.«
    »Es gab also mehr Ermittlungen wegen Drogen?«
    »Es gibt immer mehr Ermittlungen wegen Drogen. Die Ermittlungen wegen Drogen sind praktisch unendlich. Die
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