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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung
Autoren: Gianrico Carofiglio
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Menge von Erinnerungen zusammenballte. Einen Moment fühlte er sich wie überwältigt von dieser Empfindung, und er konnte nicht weitersprechen. Er glaubte, nichts mehr erzählen zu können, weil er sich nicht entscheiden konnte, was.
    »Sie haben also die polizeiliche Warnung ausgesprochen, und dann?«
    Die Stimme des Doktors setzte den stockenden Mechanismus wieder in Gang.
    »Im Protokoll schrieben meine Vorgesetzten, dass die Bankräuber das Feuergefecht eröffneten und der Unteroffizier Roberto Marías mit seiner Dienstpistole zurückschoss. Aber ich weiß nicht, wer tatsächlich zuerst geschossen hat. Sicher ist nur, dass ein paar Sekunden später einer von ihnen am Boden lag, vor dem Eingang zur Bank, und die anderen beiden davonliefen. Was danach geschah, ist mir deutlicher in Erinnerung geblieben. Ich kniete mich hin, zielte und schoss das ganze Magazin leer.«
    Roberto erzählte den Rest der Geschichte. Ein weiterer Bankräuber lag am Boden, er war an den Beinen getroffen worden. Der dritte wurde später festgenommen. Der Mann, der vor der Bank angeschossen worden war, war schwer verletzt, überlebte jedoch. Ein paar Tage nach der Schießerei wurde Roberto zum Einsatzchef gerufen, der ihm gratulierte, ihm eine Auszeichnung ankündigte und ihm eine Versetzung nach Mailand vorschlug. Roberto nahm an und wurde auf diese Weise mit nur dreiundzwanzig Jahren das, was er im Sinn hatte, als er zu den Carabinieri ging: Fahnder.
    »So hat also alles angefangen?«
    »So hat alles angefangen.«
    »Und Sie sagten, diese Geschichte sei Ihnen wieder eingefallen, als Sie die Treppe zu mir hochstiegen?«
    »So ist es.«
    »Wollten Sie mir ursprünglich etwas anderes erzählen?«
    »Ja. Ich wollte Ihnen einen Traum von letzter Nacht erzählen.«
    »Was haben Sie geträumt?«
    »Vom Surfen. Ich habe geträumt, dass ich auf den Wellen stand.«
    »Windsurfen?«
    »Nein, Wellensurfen.«
    »Haben Sie diesen Sport jemals ausgeübt?«
    Roberto schwieg eine Weile, während sein Blick auf ferne, stille Wellen gerichtet war, und dachte an den herben Duft des Ozeans, ohne dass es ihm gelingen wollte, ihn heraufzubeschwören.
    »Ich habe als Kind viel gesurft, bevor ich mit meiner Mutter nach Italien kam.«
    Er wollte weitersprechen, aber er fand entweder die Worte oder die Erinnerungen nicht mehr, vielleicht fehlte ihm auch der Mut, und so blieb er stumm sitzen, ohne den Doktor anzusehen. Dieser ließ ein paar Minuten verstreichen und sagte dann, dass es für diesen Nachmittag genug sei.
    »Wir sehen uns kommenden Donnerstag wieder.«
    Roberto blickte ihn erwartungsvoll an. Der Doktor schien immer etwas hinzufügen zu wollen, was dann aber ausblieb. Wir sehen uns kommenden Montag, wir sehen uns kommenden Donnerstag. Das war alles. Roberto verließ die Praxis mit einer leichten Enttäuschung, in die sich jedoch in letzter Zeit auch eine gewisse Erleichterung mischte.
    Nach langen Monaten des Sich-Treiben-Lassens schien so etwas wie Ordnung in sein Leben zurückzukehren.
    Zunächst einmal konnte er wieder schlafen. Mit Hilfe von Tropfen, zugegebenermaßen, aber das war ein Klacks im Vergleich zu der Zeit vor ein paar Monaten, als er sich mit schweren Geschützen betäuben musste, um in einen metallischen, todesähnlichen Schlaf zu versinken.
    Er hatte begonnen, wieder ein wenig Sport zu treiben, las von Zeit zu Zeit die Zeitung, trank so gut wie nichts und hatte seinen täglichen Tabakkonsum auf weniger als zehn Zigaretten reduziert.
    Außerdem waren da die Spaziergänge.
    Der Doktor hatte ihm geraten, viel zu Fuß zu gehen. So viel, dass er müde oder – noch besser – erschöpft war, wenn er nach Hause kam. Er hatte seine Skepsis kundgetan, sich jedoch gefügt, so wie man sich einer ärztlichen Anordnung fügt – und genau das war es ja auch –, und hatte kurz darauf staunend festgestellt, dass die Spaziergänge aus irgendeinem Grund ihren Zweck erfüllten.
    Er konzentrierte sich auf seine Schritte und wiederholte im Geiste den Vorgang. Ferse, Spitze, Abstoßen, Schwung. Und wieder Ferse, Spitze, Abstoßen, Schwung. Ohne Ende, wie ein Mantra.
    Diese ungewohnte Bewusstmachung der Bewegungen hatte eine hypnotische Wirkung und vertrieb seine schlechte Laune. Roberto lief manchmal drei, vier Stunden lang, und wenn er am Ende müde war, erschien ihm das als ein Anzeichen von Gesundheit im Vergleich mit der Erschöpfung und dem Nebel der vergangenen Monate.
    Es war nicht so, dass er nicht nachgedacht hätte während dieser Spaziergänge.
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