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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung
Autoren: Gianrico Carofiglio
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vorzufinden.
    Sie parkten an einer Stelle, wo schon mehrere Autos standen. Roberto hatte das Gefühl, dass seine Kräfte ihn bald verlassen würden. Er bewegte sich nur mühsam, ganz langsam, wie in Zeitlupe. Er stieg aus dem Auto und blieb dort stehen, ohne zu wissen, was er eigentlich vorhatte.
    »Willst du so ins Wasser gehen, mit den Kleidern?«, fragte Emma. Ihre Stimme drückte eine Mischung aus Ironie und Besorgnis aus. Vielleicht fragte sie sich gerade, ob das Ganze eine gute Idee gewesen sei. Dieser Mann war seit über dreißig Jahren nicht mehr auf einem Surfbrett gestanden. Wer weiß, ob er es überhaupt noch konnte? Sie blickte aufs Meer hinaus. Es war eine riesige Fläche aus Schaum, der im bleichen, gleichförmigen Licht des Morgengrauens leuchtete.
    Ohne ein Wort verschwand Roberto wieder im Auto, um sich umzuziehen. Als er wieder zum Vorschein kam, trug er eine Badehose, ein altes T-Shirt und alte, weiß-blaue Tennisschuhe. Er nahm das Brett vom Gepäckträger, klemmte es unter den Arm und sah zu Emma hinüber.
    »Roberto, wenn du lieber nicht …« Die Spur von Ironie war jetzt verschwunden.
    »Gehen wir«, sagte er, und sie gingen los Richtung Meer.
    Über den Strand verstreut sah man einige junge Leute und ein paar in den Sand gesteckte Surfbretter. Bis jetzt schien noch keiner im Wasser gewesen zu sein. Der Maestrale blies nicht allzu heftig, doch trocken und mit gefährlichen Versprechungen.
    Das schaffst du nicht, dachte Roberto, während sie zum Strand hinunterstiegen und das Gefühl der Schwäche nicht weichen wollte.
    Du schaffst das nicht, das steht außer Frage. Du bist alt und hast alles vergessen. Wie alt warst du das letzte Mal? Und wann war überhaupt das letzte Mal gewesen? Nicht einmal das wusste er noch. Wer konnte sagen, ob es diese Zeit überhaupt gegeben hatte. Sie war nicht fern, sondern einfach in einer anderen Welt. Wärst du in der Lage, deine Erinnerungen von den Träumen zu unterscheiden? Die Wellen in deiner Erinnerung sind stumm, genau wie im Traum. Also sind sie vielleicht auch nicht wahr.
    Du schaffst es nicht.
    Wie hatte jener Satz gelautet, den der Doktor ihm gesagt hatte? Es ist eine Sache, auf die Welle zu warten, aber es ist eine andere, auf dem Brett aufzustehen, wenn sie kommt. Richtig.
    Emma lief hinter ihm. Einen endlosen Augenblick lang dachte Roberto – er glaubte es ernsthaft –, dass seine Mutter hinter ihm ging, und er hatte den Eindruck, an einem anderen Ort zu sein und ein anderes Leben zu leben, das möglich gewesen wäre, aber so nicht stattgefunden hatte.
    Der Wind wehte ihnen wieder salzige Luft zu. Dieselbe wie vor vielen Jahren. Er zog die Schuhe aus. Seine Füße versanken im kühlen Sand. Er spürte auf seinem Gesicht, seinem Körper, dem Brett die Blicke der jungen Leute, die den Strand schon belegt hatten. Blicke, die erst feindselig waren, dann, als sie ihn genauer studiert hatten – ein alter Mann –, höhnisch.
    Einer der Jugendlichen stand auf und kam näher. Vielleicht wollte er ihm etwas sagen. Vielleicht wollte er sagen, dass der Strand, zumindest zu dieser Tageszeit, ihnen gehörte. Es war ihr Ort, nicht seiner. Vielleicht wollte er aber auch gar nichts sagen, sondern sich nur die Beine vertreten. Sicher ist, dass die Augen des Jungen genau in dem Moment auf Robertos Augen trafen, als die Sonne aufging. Der Junge wandte den Blick ab und beschloss, wieder zurückzugehen und sein zu lassen, was auch immer er im Sinn gehabt hatte.
    Er setzte sich in den Sand, neben die Surfbretter, wechselte ein paar verlegene Sätze mit seinen Freunden, lachte ein wenig zu laut, man sollte es hören.
    Doch Roberto hörte es nicht. Er hielt nur ein paar Sekunden inne, um dem Brüllen der Wellen zu lauschen. Hinter ihm ging die Sonne auf und warf seinen Schatten längs über den Strand, bis ins Wasser hinein.
    In diesem Moment, während er seinen Schatten betrachtete, der sich mit dem Schaum vermischte, fiel ihm etwas ein, was er vor langer Zeit gelesen hatte.
    Anfang der Neunzigerjahre war ein Frachtschiff, das eine Ladung Spielzeug von Hongkong in die USA bringen sollte, in einen schlimmen Sturm geraten. Die haushohen Wellen hatten ein Dutzend Container losgerissen, die sich beim Aufprall öffneten und einige Tausend gelbe Badeenten ins Meer entließen. Es war – so schien es – ein banaler Unfall, der als Versicherungsschaden abgehakt werden würde.
    Die Entchen sahen das jedoch anders. Sie ließen sich von Wind, Wellen und Strömungen fröhlich
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