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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung
Autoren: Gianrico Carofiglio
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wünscht, obwohl er über vierzig ist und ich ein knapp zwölfjähriger Junge.
    Ich weiß, dass es absurd klingt, aber auf gewisse Weise erinnerte mich Roberto – so heißt er – an Scott.
    Roberto muss wirklich gut sein in seinem Job, denn nach nur drei Tagen hatte er entdeckt, was mit Ginevra los war und drei Typen verhaftet, einen aus meiner Schule, der sitzengeblieben war, und zwei Ältere, die aufs Gymnasium gingen.
    Ich sage »gingen«, denn ich glaube, dass sie in Zukunft die Schule im Jugendgefängnis besuchen werden. Allerdings weiß ich nicht genau, wie diese Dinge funktionieren, vielleicht kommen sie auch wieder frei und gehen in eine ganz normale Schule.
    Auch Ginevra wird die Schule wechseln, und ich werde sie wohl nie wiedersehen.
    Die Vorstellung, jeden Tag ins Klassenzimmer zu kommen und sie nicht mehr zu sehen, lässt mein Herz überfließen vor Traurigkeit. Den Satz von der überfließenden Traurigkeit habe ich in einem Lied gehört, und mir fällt kein besserer Ausdruck ein zu sagen, wie ich mich fühle.
    * * *
    Seit mehreren Nächten schon sehe ich Scott nicht mehr, und mir ist klar geworden, dass ich nicht mehr von ihm träumen werde.
    Aber dann dachte ich mir, wenn er schon eine Schöpfung meiner eigenen Fantasie war, könnte ich doch meine Fantasie bitten, noch eine letzte Begegnung zu organisieren, bei der ich mich von ihm verabschieden konnte. Auch ohne zu schlafen.
    Ich zog also den Rollladen herunter, legte mich aufs Bett und schloss die Augen. Ich konzentrierte mich mit aller Kraft.
    Nach einiger Zeit gelang es mir, und Scott tauchte auf. Er saß gefasst und ernst an meinem Bett.
    »Hallo, Scott, schön, dass du da bist.«
    Ich freue mich auch, dich zu sehen, Chef.
    »Wir verabschieden uns jetzt voneinander, nicht wahr?«
    Ich fürchte ja, Chef.
    »Aber warum? Warum können wir uns nicht weiter im Park treffen, wenigstens von Zeit zu Zeit?«
    Du brauchst mich nicht mehr, Chef. Meine Mission ist vollbracht.
    Dieser Satz machte mich wütend. Ich wollte ihm schon sagen, dass das eines der dümmsten Dinge war, die ich je gehört hatte. Zum Teufel mit der Mission. Konnten wir uns denn nicht einfach deshalb treffen, weil wir gern zusammen waren, etwa um durch den Park zu rennen oder im türkisfarbenen Wasser des Sees zu schwimmen? Musste denn alles einen Grund und ein Ende haben?
    Doch das sagte ich nicht.
    »Ich werde dich nie wiedersehen und Ginevra auch nicht. Ich bin so traurig«, sagte ich und zog die Nase hoch, um nicht zu weinen.
    Du hast getan, was getan werden musste, Chef. Ich bin stolz auf dich, und dein Vater wäre es auch.
    Ich zog noch einmal die Nase hoch, aber der letzte Satz hatte mir eine Gänsehaut gemacht, und ich fühlte mich besser.
    »Wenn ich einmal einen Hund haben werde, nenne ich ihn wie dich, das weißt du, nicht wahr?«
    Ich spürte, wie er meine Hände leckte, doch er sagte nichts.
    »Hast du das gehört, Scott?«
    Er antwortete nicht.
    Dann machte ich die Augen auf und sah, dass er für immer fortgegangen war.

32
    Das Auto fuhr langsam, um nicht die schlecht ausgeschilderte Stelle zu verpassen, an der sie abbiegen mussten, um zum Strand zu gelangen. Der Himmel klarte auf, und durch die heruntergelassenen Fenster wehte eine trockene Brise herein, die ihnen durch die leichten Kleider drang und sie schaudern ließ. Später würde es bestimmt warm werden, aber um diese Tageszeit war die Luft noch frisch und klar. Es war einer jener perfekten Momente, die manchmal einen Sommertag ankündigen.
    Emma lenkte, und Roberto hatte die Straße im Blick. Er nahm die Veränderungen in sich und außerhalb von sich wahr, registrierte sie, ließ sie an sich vorbeiziehen. Wie der Doktor es ihm beigebracht hatte. Bilder aus der Vergangenheit – oder vielleicht auch mitunter aus seiner Fantasie – wechselten sich ab, zogen vorüber und verschwanden wieder. Von Zeit zu Zeit überkam ihn ein Schwall von Angst, aber auch der war schnell wieder vorbei und ließ ein leichtes Kribbeln der Seele zurück. Sie waren frühmorgens aus Rom aufgebrochen, um noch vor Sonnenaufgang am Meer zu sein. Die Wettervorhersage hatte Sturm angekündigt. Santa Marinella war zwar nicht Dana Point, aber an diesem Tag würde es sehr hohe Wellen geben. Außergewöhnlich hohe Wellen für das Tyrrhenische Meer und den Monat Juli.
    Neben den Wellen wurden auch viele Surfer erwartet, so dass man sehr früh da sein musste, wenn man nicht riskieren wollte, den Strand überfüllt und das Meer unzugänglich
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