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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung
Autoren: Gianrico Carofiglio
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den Wagen in die Werkstatt.«
    »Das mache ich.«
    Roberto sah zu, wie das Auto sich entfernte, bis es um die Ecke bog. Dann ging er schnell zur Praxis.
    * * *
    »Entschuldigen Sie bitte die Verspätung.«
    »Sie sind außer Atem.«
    Roberto lächelte schwach. »Ich bin die Treppen hochgelaufen, und davor habe ich einer jungen Frau geholfen, ihr Auto zu starten. Die Batterie war leer, und ich musste sie anschieben.«
    Der Doktor verlangte keine weiteren Erklärungen.
    »Wie war Ihr Wochenende?«
    »Ganz okay. Ich würde sagen, besser als die anderen. Ich bin sogar ins Kino gegangen.«
    »Ach, das ist gut. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie im Laufe unserer Gespräche noch nie davon erzählt, im Kino gewesen zu sein.«
    »Das stimmt. In der Tat ist das auch noch nicht vorgekommen. Ich erinnere mich nicht einmal mehr, wann ich das letzte Mal dort war. Es muss eine Ewigkeit her sein.«
    »Was haben Sie gesehen?«
    »Ach, einen französischen Film, der in einem Gefängnis spielt. Der Prophet . Haben Sie ihn gesehen?«
    »Nein, aber ich gehe auch nicht oft ins Kino. Hat Ihnen der Film gefallen?«
    »Ich weiß nicht recht, einige Aspekte waren realistisch, wie die Dinge im Gefängnis tatsächlich funktionieren und so. Andere hingegen waren vollkommen absurd, aber vielleicht bin ich da beruflich vorbelastet. Ich habe es auf jeden Fall genossen, ins Kino zu gehen. Ich meine, ich hatte wirklich vergessen, wie es war, und ich fand es sehr angenehm.«
    »Sind Sie in Begleitung gegangen, oder waren Sie allein?«
    »Nein, nein. Allein.«
    »Der Traum, den Sie letztes Mal erzählt haben, hat mich sehr neugierig gemacht.«
    »Der vom Surfen?«
    »Ja, wollen Sie mir davon erzählen?«
    »Von dem Traum oder vom Surfen?«
    »Was Ihnen lieber ist.«
    »Ich habe Ihnen doch erzählt, dass ich in Kalifornien geboren und aufgewachsen bin, erinnern Sie sich?«
    »Natürlich erinnere ich mich. Ihre Mutter war Italienerin und hatte einen Amerikaner geheiratet. Ihr Vater war Polizist.«
    »Ja, genau. Mein Vater war Kommissar. Wir wohnten in der Nähe des Ozeans, in einer Kleinstadt zwischen Los Angeles und San Diego. San Juan Capistrano heißt sie.«
    »Ich nehme an, dass es normal ist zu surfen, wenn man dort aufwächst.«
    War es normal? Roberto erinnerte sich nicht – wusste nicht –, ob das so normal war. Er war lange Zeit der Jüngste der Gruppe gewesen, die dort gemeinsam surfen ging. Ein Kind inmitten von Erwachsenen und Wellen.
    »Das kann ich nicht beurteilen. Ich war immer schon fasziniert von den Wellen, seit ich klein war. Ich habe mit acht Jahren angefangen zu surfen, mit meinem Vater und seinen Freunden. Damals waren keine anderen Kinder dabei.«
    »In einem Film habe ich einmal gesehen, wie ein Surfer in einem Tunnel steht, den eine Welle um ihn bildet. Konnten Sie so etwas auch?«
    »Das ist ein Tube. Ja, das konnte ich.«
    Sie schwiegen. Roberto versuchte, seine Gedanken zu ordnen, da das Gespräch eine unvorhergesehene Wendung zu nehmen schien. Der Doktor hatte einen Ausdruck, der sich des Öfteren auf seinem Gesicht abzeichnete, ein wenig geheimnisvoll, aber wohlwollend. Eine erwartungsvolle Miene. Nach ein paar Minuten sprach Roberto weiter.
    »Ich liebte das Surfen. Auch wenn ich nicht mehr weiß, wie es sich anfühlt.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Es ist nicht leicht zu erklären, ich meine, dass ich nicht mehr weiß, was ich dabei empfand. Ich weiß nur noch, dass ich es liebte, aber ich erinnere mich nicht mehr daran. Ich weiß es, aber ich erinnere mich nicht.«
    Der Doktor nickte. Roberto hätte gern gewusst, was er dachte. Er hätte gern eine Erklärung gehabt – manchmal hatte er den Doktor auch direkt darauf angesprochen –, aber vor allem in Fällen wie diesem gab der Doktor keine Erklärungen. Vielmehr sagte er überhaupt nichts. Er nickte höchstens. Oder sah ihm in die Augen. Oder rutschte auf seinem Stuhl nach vorn. Aber er sagte nichts.
    »Wann haben Sie das letzte Mal gesurft?«
    Das wusste er nicht mehr. Er versuchte zu rekonstruieren, wann er das letzte Mal auf dem Surfbrett gestanden war, aber es gelang ihm nicht, und er geriet in Panik. Als würde dadurch alles ins Rutschen kommen. Als wäre die Grenze zwischen Erinnerungen, Träumen, Wirklichkeit, Fantasie und Albträumen auf einmal durchlässig geworden und die Kriterien, nach denen sie getrennt waren, unhaltbar und nutzlos.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Stimmt was nicht, Roberto?«
    Roberto fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wollte
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