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In der Brandung

In der Brandung

Titel: In der Brandung
Autoren: Gianrico Carofiglio
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Vorstellung, man könne diesem Phänomen mithilfe der Carabinieri, der Richter und Prozesse Herr werden, ist allerdings vollkommen idiotisch. Das ist so, als würde man eine Welle dadurch aufhalten wollen, dass man ein Holzstäbchen in den Sand steckt. Das würde ich zwar nie öffentlich so sagen – das würde keiner von uns tun –, aber die einzige Möglichkeit, das ganze System aus den Angeln zu heben und die Mafia buchstäblich in die Knie zu zwingen, wäre, Drogen zu legalisieren.«
    »Dachten Sie das damals auch schon?«
    »Sie meinen, als ich anfing in diesem Job? Natürlich nicht. Ich habe nie gedacht, dass wir alle Verantwortlichen festnehmen und die Gesellschaft säubern könnten. Aber ich war sicher, dass ich Teil eines Räderwerks war, das das Problem in den Griff bekommen würde.«
    »Und stattdessen?«
    »Wir nahmen zehn Leute fest und beschlagnahmten, sagen wir mal, zwei Kilo Kokain. Nach wochen- oder monatelangen Ermittlungen. In unseren Augen war das eine große Leistung, aber was den Markt anging, war die Wirkung gleich null. Und es war auch nichts geschehen. Die Drogen zirkulierten wie zuvor, die Dealer – nicht jene zehn, sondern andere – dealten weiter, die Kunden schnupften, rauchten und spritzten das Zeug wie zuvor.«
    Er sah den Doktor an, um die Wirkung seiner Worte zu prüfen. Aber er konnte nichts entdecken – das Gesicht hatte immer denselben unerschütterlichen Ausdruck –, abgesehen von der überraschenden Tatsache, dass der Doktor asymmetrische Augen hatte, die in Form und Größe vollkommen unterschiedlich waren.
    »Worin bestand Ihre Arbeit genau?«
    »Am Anfang setzten sie mich in den Abhörraum, wo ich Telefongespräche protokollierte, bei denen es hauptsächlich um weiße und schwarze T-Shirts ging, um Hosen und Jacken und um Vanille- oder Schoko-Croissants.«
    »Wie bitte?«
    »Das sind einige der Code-Wörter, mit denen Dealer untereinander Drogen bezeichnen, wenn sie Angst haben, abgehört zu werden. Oder besser, bezeichneten. Mittlerweile haben sie erkannt, dass das keine sehr gute Idee war. Ich erinnere mich an zwei Typen, die dauernd über Jacken, Hosen und T-Shirts redeten. Der Richter gab uns eine Vollmacht, um herauszufinden, ob die beiden mit Kleidern handelten, ob sie ein Lager hatten oder auch nur bei sich zu Hause Kartons mit Jacken, T-Shirts und Hosen horteten. Er wollte von vornherein ausschließen, dass sie sich damit herausredeten, es würde sich tatsächlich um Kleidung handeln.«
    »Natürlich gab es kein Kleiderlager …«
    »Natürlich nicht. Aber wie gesagt, die ersten Monate bestanden beinahe ausschließlich aus Abhören und Durchsuchungen. Danach wurde ich bei der Straßenstreife eingesetzt, in Diskotheken und Nachtlokalen.«
    »Was heißt das?«
    »Ich komme gleich darauf zurück, aber ich muss vorweg noch etwas klären. Wenn wir Leute festnahmen und in die Kaserne brachten, um die Akte anzulegen, dann gab es immer irgendeinen Kollegen, der persönlich für Gerechtigkeit sorgen wollte und die Festgenommenen verprügelte.«
    »Einfach so verprügelte, ohne Grund?«
    »Praktisch ja. Sie hätten allerdings gesagt, angesichts der Tatsache, dass wir sie festnahmen und die Richter sie wieder freiließen, sei eine Tracht Prügel das Mindeste, was wir tun konnten. Es gehe doch um Gerechtigkeit, und man dürfe ihnen nicht den Eindruck vermitteln, dass alles nur ein Scherz sei und dass man als Krimineller nichts riskierte.«
    »Stimmt es denn, dass die Richter das tun?«
    »Keineswegs. Ich habe nie erlebt, dass eine gute Festnahme, das heißt eine, bei der nichts übers Knie gebrochen wurde, mit einer Freilassung geendet hätte. Brutal sind vor allem diejenigen, die keine guten Ermittler sind.«
    »Haben Sie denn auch …?«
    »Klar hab’ ich das auch getan, in manchen Fällen geht es einfach nicht anders. Aber das Prügeln um des Prügelns willen habe ich noch nie gutgeheißen. Wie auch immer, wenn ich miterlebte, dass Kollegen sich Festgenommene vornahmen, versuchte ich immer, sie davon abzubringen, tätlich zu werden. Ein Vorbestrafter kann beurteilen, wen er vor sich hat. Diese Leute wussten, dass ich die Kollegen tatsächlich deshalb zum Aufhören brachte, damit sie aufhörten, und nicht, um die Farce vom guten und vom bösen Polizisten zu spielen. Und deshalb entwickelten einige von ihnen Vertrauen zu mir. Wenn sie wieder frei waren, unterhielten wir uns, wenn wir uns begegneten, mit einigen freundete ich mich richtig an, und auf diese Weise entstand ein
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