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Im Zeichen der Menschlichkeit

Im Zeichen der Menschlichkeit

Titel: Im Zeichen der Menschlichkeit
Autoren: Stefan Schomann
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1962 gegründete Produktions- und Logistikzentrum in Wiesentheid zählt heute zu den avanciertesten Einrichtungen seiner Art in der Welt. Es wäre für jeden Science-Fiction-Film ein attraktiver Drehort – ein Labor, das aus der Zukunft kommt.
    Täglich werden in Bayern rund zweitausend Vollblutspenden geleistet und noch in der Nacht in das stille unterfränkische Dorf gebracht. Die Nachtschicht nimmt die kostbare Fracht in Empfang und gibt den Fahrern im Gegenzug fertig aufbereitete Blutkonserven für die Heimatstandorte mit. Dieses Karussell dreht sich jahrein, jahraus. Würde es auch nur für wenige Tage anhalten, bräche die Blutversorgung zwischen Passau und Lindau zusammen. Die Produktion beginnt um drei Uhr nachts; das Blut muss binnen eines Tages verarbeitet werden. Parallel erfolgt anhand einer Probe die Virenuntersuchung im Labor. In der ersten Halle beaufsichtigt ein Dutzend »Werker«, wie die Mitarbeiter hier heißen, den Weg des Blutes durch die Verarbeitungsstationen. Achtzig Blutbeutel, von denen jeder knapp einen halben Liter enthält, baumeln als seltsames Mobile an einem Gestell. Betörend rot, stechen sie sofort ins Auge, bergen sie doch einen unvergleichlichen Stoff – das Medium des Lebens. Mit Hilfe der Schwerkraft werden die weißen Blutkörperchen hier herausgefiltert. Mit Strichcodes versehen, wandern die Beutel anschließend in die Zentrifugen, die wie eine Batterie von Wäschetrocknern aussehen und bei fünftausendfacher Erdbeschleunigung die roten Blutkörperchen vom Plasma trennen. An der nächsten Station werden die einzelnen Bestandteile in schwindelerregendem Tempo vollautomatisch gewogen, etikettiert und sortiert. Die Technik stammt bezeichnenderweise aus der Fleischindustrie.
    Eine Atmosphäre der Konzentration und Präzision erfüllt die Räume, begleitet vom leisen Piepen der Elektronik und dem Zischen der Hydraulik. Es ist eine Welt in Weiß und Rot, andere Farben treten kaum in Erscheinung. Klinisch weiß glänzen Wände, Laborkittel und Geräte, beleuchtet von farbneutralem, überirdisch hellem LED -Licht, das eine zuverlässige Beurteilung des Plasmas ermöglicht. Dazwischen dann die satten Farbtupfer der Blutbeutel: Schwarzrot und dickflüssig die Erythrozyten, wässrig orange das davon abgeschiedene Plasma. Wie in einer Szenebar, die nur Johannisbeer- und Maracujasaft im Angebot hat. Dazwischen fallen vereinzelt kiwigrüne Plasmabeutel ins Auge – wenn die Spenderin die Mini-Pille nimmt.

    Das Blutspendezentrum des Bayerischen Roten Kreuzes in Wiesentheid: Im ersten Arbeitsschritt werden die weißen Blutkörperchen herausgefiltert.
    © J. F. Müller / DRK
    Nach einigen weiteren Stationen werden die Komponenten schließlich im Tiefkühllager deponiert. Da dessen sibirische Kälte keinem Menschen zuzumuten ist, walten hier Roboter auf Schienen. Wie mechanische Butler sausen sie durchs Spalier der Hochregale, beladen große Tabletts mit Blutkonserven, übergeben sie im Hauptgang an einen anderen Gleiter, der sie durch eine Schleuse nach draußen schiebt, wo Werker in wohltemperierten Räumen sie schließlich transportfertig machen. Das Karussell dreht sich weiter.
    Bundesweit betreuen die Dienste des DRK 3,5 Millionen Vollblutspenden im Jahr. Das Plasma ist zwei Jahre lang haltbar, die roten Blutkörperchen nur etwa sechs Wochen, immerhin doppelt so lange wie vor sechzig Jahren, als die Transfusionsmedizin im großen Stil begann. Anfangs wurde das Blut noch von Hand in Glasflaschen gefüllt, die auch vom Milchmann hätten stammen können. Herzoperationen, Krebstherapien und Unfallchirurgie wären heute ohne Blutpräparate nicht vorstellbar. Große Blutbanken wie Wiesentheid dienen zugleich als Puffer für Notfälle. Wobei nicht jede Katastrophe einen erhöhten Bedarf nach sich zieht. Nach dem Zugunglück bei Eschede 1998 etwa wurden die Abnehmer mit Blutspenden schier überschüttet. Tatsächlich benötigte man jedoch weniger Blut als im Normalbetrieb, da die umliegenden Krankenhäuser Routineoperationen zurückstellten. Dafür kam es einige Monate später zu Engpässen, da merklich weniger Leute spendeten als sonst – mit der Begründung, sie wären ja erst kürzlich zur Ader gelassen worden.
    Im Jahr darauf sorgte ausgerechnet der Blutspendedienst des bayerischen Landesverbandes für den größten Rotkreuzskandal der Nachkriegszeit. Über Jahrzehnte hinweg hatten der Landesgeschäftsführer, der Chef des Blutspendedienstes sowie weitere führende Mitarbeiter krumme
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