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Im Zeichen der Menschlichkeit

Im Zeichen der Menschlichkeit

Titel: Im Zeichen der Menschlichkeit
Autoren: Stefan Schomann
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Jahrhunderts noch ungebrochen.
    Heute ist die Altstadt von Genf mit Gedenktafeln nur so gekachelt. Etliche davon erinnern an die ersten Protagonisten, die Gründungsväter des Roten Kreuzes. Da ist die hübsche, bescheidene Villa von Guillaume-Henri Dufour. Dort das etwas klobige Haus Gustave Moyniers, in dem auch Théodore Maunoir als Mieter gewohnt hat. Hier die Avenue Appia, dort Dunants Stützpunkt zwischen Kirche und Kanonen. Einige Treppen tiefer, im Palais de l’Athénée, fand im Oktober 1863 eine internationale Konferenz statt, aus der das Rote Kreuz hervorging. Ein paar Straßenzüge dieser Stadt haben die Weltgeschichte nachhaltiger beeinflusst als manche Königshäuser.
    Hier kommt Jean-Henri Dunant am 8. Mai 1828 zur Welt, als erstes von fünf Kindern. Die Eltern sind hugenottischer Herkunft und unterhalten sowohl verwandtschaftliche wie auch geschäftliche Beziehungen nach Frankreich. Vater Jean-Jacques führt in Marseille eine Handelsgesellschaft und ist weit in der Welt herumgekommen: Venedig, London, Lissabon. Die unstete Lebensführung hat Jean-Henri von ihm. Mutter Anne-Antoinette ist dagegen ausgesprochen standorttreu, eine stille, etwas ängstliche Person. Als Ausweis von Weltläufigkeit genügt es ihr, sich der Mode der Anglophilie folgend »Nancy« zu nennen. Später wird auch ihr ältester Sohn der englischen Schreibweise »Henry« den Vorzug geben. Während es Jean-Jacques immer wieder nach Marseille zieht, hütet Nancy Haus und Kinder. Je länger ihr Mann fernbleibt, desto häufiger kränkelt sie. Je mehr sie kränkelt, desto länger bleibt er weg. Schließlich lässt sie fast jeden dritten Tag den Arzt rufen. Dieser beständige Hunger nach Fürsorge muss die Kinder zwangsläufig geprägt haben. Der Älteste gründet später ein Hilfswerk, der Jüngste wird Sozialmediziner.
    Eine Familienreise nach Marseille bietet dem achtjährigen Jean-Henri Anlass zu erster literarischer Betätigung: Er führt ein Tagebuch. Das Schreiben und das Reisen werden zeitlebens Passionen, ja Obsessionen für ihn bleiben. Im Rahmen seiner Verpflichtungen als Vormund besucht der Vater das Zuchthaus von Toulon. Eine ungewöhnliche Attraktion für einen Urlaub am Mittelmeer. Doch die Agenda der Familie Dunant folgt nicht touristischen, sondern moralischen Gesichtspunkten. Beständige Wohltätigkeit entspricht ihrem christlichen Selbstverständnis und gehört in ihren Kreisen auch einfach dazu.
    Auf »La Monnaie«, dem Landsitz der Dunants oberhalb des heutigen Bahnhofs, verlebt Jean-Henri viele glückliche Tage. Mit prächtigem Blick auf den See und den dahinter aufragenden Montblanc »sowie die Sonnenuntergänge über diesen Gletschern, die den Königen von Sardinien gehörten«. Denn Savoyen, die Alpenregion südlich des Genfer Sees, ist damals noch Teil des Königreichs Sardinien-Piemont. Es wird eine schicksalshafte Rolle in seinem Leben spielen. Mit zwölf Jahren tritt er dann ins Collège Calvin ein. Vom Reformator selbst begründet, besteht die Lehranstalt bis heute; ein erhabener Renaissancebau, der vor Stolz und Standfestigkeit nur so strotzt. Die Mittagspause verbringt der Junge oft bei einer Tante im nahen Petersbrunnensträßchen. Das Haus hat eine kuriose Vorgeschichte: Die Familie hatte es einst erworben, um Jean-Henris Großvater nahe zu sein. Der saß zu dieser Zeit im Gefängnis, nachdem er bei Spekulationsgeschäften sein Vermögen verloren hatte. Verhaftet worden war er auf Betreiben seines Hauptgläubigers – des eigenen Bruders. Als den Enkel später ein ähnliches Schicksal ereilt, erleben die Eltern ein bitteres Déjà-vu.
    1842 erscheint sein Name zum ersten Mal im Journal de Genève : Der Schüler Jean-Henri Dunant hat eine Auszeichnung in Religionslehre erhalten. Sie wird in einem feierlichen Akt in der Kathedrale überreicht. Diese Kirche auf dem höchsten Punkt des Altstadthügels bewahrt die Genfer Geschichte wie ein Zeitspeicher. Vor allem katholisch geprägte Besucher dürfte sie in Erstaunen versetzen. Denn sie ist leer. Nackt und kahl wie ein Rohbau. Kein Altar, keine Figuren, nicht einmal ein Kreuz. Dabei muss sie, als gotische Kathedrale, einst reich ausgeschmückt gewesen sein. Im Zuge der protestantischen Kulturrevolution aber haben die Bilderstürmer unerbittlich gewütet. Nur das Wort sollte hier gelten und herrschen.
    Die hugenottischen Glaubensflüchtlinge waren überdurchschnittlich gebildet und wirtschaftlich erfolgreich; viele entstammten dem französischen Adel. Über
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