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Im Zeichen der Menschlichkeit

Im Zeichen der Menschlichkeit

Titel: Im Zeichen der Menschlichkeit
Autoren: Stefan Schomann
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kamen.« Auch wenn noch herkömmliche Vorderladergewehre und Kanonen zum Einsatz kommen, so sind sie doch erheblich verbessert worden, was Reichweite und Treffsicherheit angeht – sofern man dies als Verbesserung anzusehen gewillt ist. Die Franzosen erproben bereits Salvengeschütze, Vorläufer der Maschinengewehre. Zur gleichen Zeit kommen Granaten auf; der Begriff verdankt sich denn auch dem italienischen Wort für Granatapfel. Außerdem erfolgt über Solferino die erste Luftaufklärung der Geschichte. Im unübersichtlichen Hügelland sind alle Beteiligten brennend an den Manövern des Feindes interessiert. Der französische Starfotograf Nadar soll mit einem Ballon aufsteigen, um die österreichischen Stellungen auszukundschaften. Doch der Versuch erbringt nicht viel, und so herrscht auf beiden Seiten Unklarheit über die Position und die Stärke des Gegners, ja selbst über die der eigenen Truppen. Niemand ahnt, dass der Feind nur wenige Kilometer entfernt biwakiert.
    Am 23. Juni eröffnet Napoleon seinem Verbündeten Viktor Emanuel, dass er seine Truppen wegen der drohenden preußischen Mobilmachung wohl bald zurückziehen muss. Hätten die Österreicher in ihren Stellungen ausgeharrt, womöglich hätte die Schlacht von Solferino gar nicht mehr stattgefunden. So aber wird sie zu einer der blutigsten des 19. Jahrhunderts. Noch hat Henry Dunant nicht die leiseste Vorstellung von seiner künftigen Mission, doch er hätte sich keinen geeigneteren Konflikt aussuchen können, um aller Welt die Dringlichkeit flankierender humanitärer Maßnahmen vor Augen zu führen.
    Der 24. Juni 1859 ist nicht nur einer der längsten, sondern auch einer der heißesten Tage des Jahres. Die Sonne heizt die Ebene auf wie ein Backblech, weshalb die Truppen meist nachts marschieren. Die Franzosen wollen zum Mincio vorstoßen, wo sie die Österreicher verschanzt glauben. Diese wiederum haben sich entschlossen, den Feind am Chiese zu stellen, wo sie ihn immer noch vermuten. Die ersten Einheiten prallen am Morgen gegen halb fünf aufeinander. Binnen weniger Stunden formt sich eine fast dreißig Kilometer lange Front. Insgesamt stehen einander rund 300000 Mann und 25000 Pferde gegenüber, auch wenn letztlich nicht alle Einheiten eingreifen. Die Operation im Morgengrauen verläuft unkoordiniert, viele Soldaten sind schlaftrunken. Mit unfreiwilliger Komik bezeugt dies auch ein Ausspruch Napoleons: »Unerwarteterweise sehe ich 100000 Österreicher auf mich losrücken.« Kettenrauchend verfolgt er das infernalische Getümmel; und auch wenn er sich um demonstrative Abgebrühtheit bemüht, kommt ihm am Ende buchstäblich das Kotzen.
    Italiener und Franzosen setzen kampferprobte Einheiten aus dem Krimkrieg ein, dazu Legionäre aus ganz Europa. Aufseiten der Franzosen sind die Zuaven besonders gefürchtet, Berber aus Algerien, die mit ihren roten Pluderhosen und den Quasten am Fes einen exotischen Anblick bieten. Sie stammen just aus jener Region im Atlasgebirge, in der Dunant sein Glück machen will. Auch Österreich bietet Soldaten all seiner Länder auf. Und so tobt zwischen Chiese und Mincio eine zweite Völkerschlacht.
    Wie nähert man sich einem Schauplatz, an dem vor anderthalb Jahrhunderten eine Katastrophe stattgefunden hat? Meist werden bedeutende Schlachten in der Nähe unbedeutender Orte geschlagen, an denen sich weder vorher noch nachher viel begeben hat. Nur an diesem einen Tag war alles anders – in Solferino wurde Geschichte erzwungen.
    Es ist sicher nicht die schlechteste Methode, mit Menschen zu sprechen, die sich das damalige Geschehen in geduldiger Kleinarbeit erschlossen haben. Menschen wie Luigi Lonardi, der etliche Jahre lang Bürgermeister von Solferino war. Ein ehemaliger Kunstlehrer, ein politischer Quereinsteiger, der Ende der neunziger Jahre ins Amt kam. Es war die Zeit der »Mani pulite«, der sauberen Hände, die in Italien einen Neuanfang in Politik und Verwaltung zuwege bringen sollten. Während die meisten Solferino-Forscher vornehmlich Texte als Quellen heranziehen, hat Lonardi sich als Augenmensch vor allem für die Bilder jener Zeit interessiert und Kupferstiche, Lithographien und Ansichtskarten zusammengetragen. Unter den zahllosen Ausgaben, die Dunants folgenreiche Erinnerung an Solferino weltweit erlebt hat, ist die von ihm besorgte Edition die am schönsten illustrierte.

    Feldherrnperspektive: Napoleon III. verfolgt das Kampfgeschehen rund um den Burghügel von Solferino.
    © ullstein bild
    Lonardi lebt am
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