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Im Zeichen der Menschlichkeit

Im Zeichen der Menschlichkeit

Titel: Im Zeichen der Menschlichkeit
Autoren: Stefan Schomann
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der Po-Ebene brütet, der aber wohl zugleich seine koloniale Kompetenz betonen soll. Wäre Dunant in Pozzolengo oder Montichiari abgestiegen, er wäre wohl geblieben, was er war – ein kleiner Irrläufer in einem großen Krieg. So aber konnte er Geschichte schreiben.
    Der Palast gehört noch immer der Familie. Die derzeitige Hausherrin ist Kunsthistorikerin, ihr Mann lehrt Judaistik in Berlin. Ihre Bibliothek umfasst 30000 Bücher. Dunants Zimmer ist bis heute fast unverändert geblieben, mit Diwan und Kommode im Empire-Stil, Betschemel und illusionistischer Deckenbemalung. Vom schmalen Balkon aus geht der Blick direkt auf den Domplatz. Der damals mit Versehrten, Sterbenden und Toten übersät gewesen sein muss.
    Bis zu diesem Moment, bis zum ungläubigen Blick über das Heer der Leidtragenden, hat Dunant noch den Plan gehegt, beim Kaiser im nahen Cavriana vorzusprechen. Doch nun beginnt sich eine Wandlung zu vollziehen, die den Rest seines Lebens bestimmen wird. Nur zehn Ärzte sind verfügbar, am nächsten Tag gar nur mehr sechs, darunter ein Cousin der Pastorios. Dunant versucht, »gemeinsam mit einigen hiesigen Frauen die Ärzte notdürftig zu ersetzen«. Die meisten sind einfache Landfrauen, doch auch seine beiden Gastgeberinnen packen mit an. Am Domplatz erinnert heute ein Standbild an die »Donne eroiche« von Castiglione, denen das Rote Kreuz seinen ersten Schlachtruf verdankt: »Tutti fratelli!« Sie sind alle Brüder. Im Gefecht zählt die Uniform, nicht der Mensch. Im Lazarett kehrt sich die Perspektive wieder um.
    Die Kirche ist in aller Eile zum Behelfskrankenhaus umfunktioniert worden. Die Szenerie gleicht jener, die Pawel Oszelda tags zuvor in Solferino erlebt hat: Die Bänke sind hinausgetragen worden, der Boden ist mit Stroh aufgeschüttet. Dunant verbindet Wunden, besorgt Wäsche, verteilt Suppe. »Bei vielen braucht es nur einen Schluck Wasser, ein Lächeln, ein tröstendes Wort, das ihre Gedanken auf den Erlöser lenkt – und schon erwarten diese Männer tapfer und in Frieden den Moment des Dahinscheidens.«
    Als Nothelfer in Castiglione zählt er selbst zur Basis, wie heute die vielen freiwilligen Helfer des Roten Kreuzes. Anschaulich beschreibt er die Energie, die Menschen in einer solchen Grenzsituation zuwächst: »Der sittliche Gedanke, daß das menschliche Leben wertvoll sei, der Wunsch, die Qualen so vieler Unglücklicher zu lindern, die unablässige Aktivität, all dies ruft eine neue, äußerste Tatkraft hervor.« Im selben Atemzug aber gesteht er seine Überforderung ein: »Jedes Gefühl erlischt angesichts dieser Tragödie. Völlig gleichgültig geht man an Leichen vorbei.« Diese Gleichzeitigkeit von Euphorie und Abstumpfung werden Rettungshelfer aus vergleichbaren Situationen bestätigen. Es ist die notwendigerweise widersprüchliche Reaktion des menschlichen Bewusstseins auf die Konfrontation mit massenhaftem Leid.
    Nichts war gefährlicher, als die Schlacht zu überleben. Die damalige Medizin lässt sich mit der heutigen in keiner Weise vergleichen. Die Bedeutung der Antisepsis etwa wird allenfalls erahnt, aber kaum praktiziert. Wegen der Gefahr des Wundbrands sind Amputationen an der Tagesordnung. Da es jedoch noch kaum Schmerz- und Narkosemittel gibt, müssen die Betroffenen den Eingriff bei vollem Bewusstsein erleiden. Zwar experimentieren die Ärzte bereits mit Chloroform, Lachgas oder auch mit dem Pfeilgift Curare, haben diese Mittel aber noch nicht hinreichend unter Kontrolle. Nur einen Stoff gibt es, der zwar nicht den Schmerz, so doch die Panik und Verzweiflung der Verwundeten wenigstens etwas zu lindern vermag: Tabak. »Viele hatten bei der Operation die Pfeife im Mund, und mehrere rauchten noch in dem Augenblick, als sie starben.«
    Das Solferino-Prinzip
    Am Montag schickt Dunant seinen Kutscher nach Brescia, um Vorräte, Tabak und Verbandszeug zu kaufen. Am Abend besinnt er sich dann doch auf die Audienz beim französischen Kaiser. Als er seine Erlebnisse drei Jahre später zu Papier bringt, erwähnt er diesen eigentlichen Zweck seiner Mission mit keinem Wort. Stattdessen führt er sich als »einfachen Touristen« ein – als hätte er die Schönheiten Oberitaliens ausgerechnet während des Krieges besichtigen wollen. Auch der Abstecher zum Hauptquartier erfolgt scheinbar zufällig: »Gegen sechs Uhr fahre ich aus, um die Frische des Abends zu genießen …« Auf halbem Wege lässt er in Solferino halten. »Ich habe diese Schauplätze in Augenschein genommen. Der
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