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Im Zeichen der Menschlichkeit

Im Zeichen der Menschlichkeit

Titel: Im Zeichen der Menschlichkeit
Autoren: Stefan Schomann
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entstanden, vom gleichen Geist getragen.

    Für Rotkreuzmitglieder aus aller Welt wird Solferino am 24. Juni, dem Jahrestag der Schlacht, zum Pilgerziel.
    © J. F. Müller / DRK
    Die Blumen der Erinnerung
    Nach 1859 müssen Europas Landkarten neu gezeichnet werden. Österreich tritt die Lombardei ab, und zwei Jahre später ist Cavour schließlich am Ziel: Er wird der erste Premierminister des Königreichs Italien. Auch Napoleons Rechnung geht zunächst auf, der militärische Erfolg verschafft ihm innenpolitischen Rückhalt. Paris wird zur Metropole des Zweiten Kaiserreichs umgebaut und erhält dabei einen Boulevard de Magenta und eine Place de Solférino. Die Donaumonarchie blendet ihr Nationalitätenproblem trotz dieser Niederlage weiter aus. Das Festhalten an der Idee des Imperiums wird Franz Joseph auch persönlich noch teuer bezahlen müssen: Sein Bruder Maximilian wird in Mexiko hingerichtet, seine geliebte Frau Elisabeth ausgerechnet in Genf von einem italienischen Anarchisten erstochen. Als schließlich ein bosnischer Partisan den Thronfolger erschießt, zettelt Österreich einen Weltkrieg an. Von Solferino führt ein langer Weg bis Sarajewo.
    Laut Clausewitz ist der Krieg die Fortsetzung des politischen Verkehrs mit anderen Mitteln. Im folgenden Jahrzehnt greifen Europas Regierungen immer häufiger zu diesen anderen Mitteln. Der Krieg in Italien bewirkt eine spürbare Militarisierung des öffentlichen Lebens; Pathos und Propaganda bestimmen den Zeitgeist. Seinen sichtbarsten Ausdruck findet er in den großen Schlachtenpanoramen. Diese Riesenrundgemälde sind die Imax-Kinos der Belle Époque. In eigens dafür errichteten Rotunden verherrlichen sie patriotische Sternstunden. »Die französischen Siege bringen unablässig militärische Gemälde hervor«, berichtet Charles Baudelaire nach dem italienischen Feldzug. Selbst er, der feinsinnige Ästhet, kann sich der »brutalen und gewaltigen Magie« der Schlachtenpanoramen kaum entziehen. Mit Unterstützung Napoleons produziert Jean-Charles Langlois ein zweitausend Quadratmeter großes Rundbild von Solferino, das an den Champs-Élysées aufgebaut wird. Gut hunderttausend Besucher bestaunen es pro Jahr. Wenn es eine Geschichte gibt, die den Widersinn der modernen Kriege versinnbildlicht, dann ist es das Schicksal dieses Malers und seiner Gemälde. Langlois ist als junger Offizier bei Waterloo verwundet worden und hat sich danach ganz auf militärische Sujets verlegt. 1871 werden während der Belagerung von Paris mehrere seiner Panoramen zerstört. Die übrigen gelangen in seine normannische Heimat, wo sie dann 1944 bei Rückzugsgefechten der Wehrmacht in Flammen aufgehen.
    Die beiden eindrucksvollsten Mahnmale aber entstehen in Solferino und San Martino. Am Fuße jenes Hügels, auf dem die Schlacht alljährlich nachgestellt wird, führt ein Kiesweg zu einem alten Bethaus. Es verfügt über alles, was eine Kapelle braucht – Sitzbänke, Weihwasserbecken und einen kleinen Altar mit großem Kruzifix. Das übrige Inventar aber ist denkbar ungewöhnlich: Von der Krypta bis zur Decke sind die Wände mit den Knochen von Gefallenen bedeckt. In der Gruft liegen die Gebeine von 2619 Soldaten, in der Apsis prangen 1413 Totenschädel; ähnlich viele sind es im Beinhaus von Solferino. Bleich und hohläugig lagern sie in riesigen Apothekerregalen, manche unversehrt, andere mit geborstenen Hirnschalen. Der Tod, der große Demokrat, kennt weder Freund noch Feind.
    Elf Jahre nach der Schlacht wurden Tausende von Skeletten aus Friedhöfen, Feldern und Massengräbern exhumiert. Einer dieser Schädel muss jenem Kapitän Mennessier gehört haben, der einen Tag vor Henry Dunant im Palazzo Pastorio logiert hatte. Denn nachdem er gefallen war, entspann sich eine bewegende Korrespondenz zwischen den beiden Schwestern und Mennessiers Eltern in Metz. Sie bestanden darauf, dass auch die Gebeine ihres Sohnes in die Gedenkstätte überführt würden. Im Stillen hofften sie, dass dabei noch persönliche Gegenstände zutage kommen könnten, ein Knopf seines Waffenrocks vielleicht oder ein Medaillon. Es sind herzzerreißende Briefe zwischen einem Elternpaar, das sich in tiefer Trauer verzehrt, und den »chères et bonnes Demoiselles«, deren taktvolles Mitgefühl ihnen Halt bietet. Ohne dass beide Seiten einander je begegnen, entwickelt sich über Jahrzehnte hinweg eine sehr persönliche Verbindung. »Ich verbringe mein Leben damit, die Blumen der Erinnerung auszustreuen«, bekennt der
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