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Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)

Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)

Titel: Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)
Autoren: Jeri Smith-Ready
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die äußeren Grenzen des Dorfes.
    Nachdem sie einen großen Findling umrundet hatten, blieben sie abrupt stehen.
    Der Boden war von so vielen Holzsplittern übersät, dass es aussah, als wäre der Wald gefallen und nicht nur die Baumhäuser. Fast jedes Haus hatte gespaltene oder aufgerissene Wände. Das Dorf wirkte wie ein Mund ohne Zähne.
    Niemand spähte hinter den zerstörten Wänden hervor. Niemand eilte die Leitern hinab, um sie zu begrüßen. Niemand rief oder stöhnte.
    Hier lebte niemand mehr.
    „Gehen wir weiter“, sagte Rhia.
    Sie und Marek übernahmen die Führung, Adrek und Alanka folgten ihnen. Auch wenn Marek keine Familie mehr in Kalindos hatte – seine Eltern waren vor mehr als einem Jahrzehnt gestorben, als er gerade zehn Jahre alt gewesen war –, zog sich sein Magen aus Angst um seine Mentorin, Kerza, zusammen. Die Eindringlinge würden auch eine alte Frau wie sie nicht verschont haben. Auch wenn sie statt der Geister von Menschen geschaffene Götter verehrten, verstanden die Nachfahren, wie Magie bei den Dorfbewohnern funktionierte. So erreichte sie zum Beispiel ihren Höhepunkt, wenn man Enkelkinder bekam.
    Die Reiter bahnten sich ihren Weg durch das zerstörte Dorf und riefen dabei die Namen ihrer Angehörigen. Der Nebel verschluckte ihre Stimmen und alle Geräusche bis auf das dumpfe Klopfen der Hufe auf Piniennadeln. Nicht einmal das Zwitschern eines Spatzes oder das Rasseln eines Spechts antwortete auf ihr Rufen.
    Elora holte sie ein. „Vielleicht konnten alle fliehen.“
    „Nein“, flüsterte Rhia.
    Die Otterfrau strich sich eine feuchte Strähne ihres aschblonden Haares hinter das Ohr und wandte sich dem Dorf vor ihnen zu. Sie kreischte noch einmal den Namen ihres Sohnes, doch ihre Stimme hallte ungehört von den Hügeln wider.
    „Wartet.“ Rhia brachte das Pferd zum Stehen und bedeutete Marek, abzusteigen. Sobald er das getan hatte, ließ sie sich ebenfalls zu Boden gleiten und verschwand eilig zwischen den Bäumen. Marek reichte die Zügel an Elora weiter und folgte Rhia, so schnell seine Verletzung es ihm erlaubte. Erst als ereinen Duft aufspürte, verstand er, wonach Rhia suchte.
    Etwa hundert Schritte vom Pfad entfernt lag ein Soldat der Nachfahren an einen Busch Berglorbeer gelehnt, als hätte er beschlossen, sich etwas hinzusetzen und auszuruhen. Die Finger seiner linken Hand lagen um den Pfeil, der aus seiner Luftröhre ragte. Er starrte blicklos in das Laubdach des Waldes hinauf, aus dem ein ständiger Strom Tau auf seine Stirn tropfte.
    Rhia kniete sich neben den toten Soldaten. Marek wollte ihm den Pfeil entreißen und ihn wieder und wieder in die leblose Gestalt des Mannes rammen.
    Mit ruhiger Hand schloss sie dem Nachfahren die Augen. Marek verkniff sich einen Tadel für ihre humane Behandlung des Feindes. Diese Soldaten hätten für sie niemals das Gleiche getan. Aber sie konnte sich genauso wenig von einem Toten abwenden, wie sie aufhören konnte zu atmen.
    „Wir sollten weitergehen“, sagte er. „Es muss noch andere geben.“
    „Gibt es.“ Sie atmete tief ein und schloss die Augen – um das Gebet des Übergangs zu sprechen, daran hatte er keinen Zweifel.
    Ein verzweifeltes Heulen drang aus dem Dorf.
    Adrek.
    „Geh.“ Rhia behielt die Augen geschlossen. „Ich bin hier noch nicht fertig.“
    Marek zwang sein verletztes Bein dazu, zu laufen. Sein Bogen und sein Köcher mit Pfeilen schlugen ihm gegen die Schulterblätter, und er fragte sich, ob er sich schussbereit machen sollte, falls noch Gefahr in Kalindos lauerte. Dann schloss Morran sich Adreks Jaulen an. Es war kein Warn-, sondern ein Trauerschrei.
    Marek rannte über den felsigen Untergrund und kämpfte gegen das Unterholz, das an seinem Hemd zerrte. Er folgte dem Klang der Schreie und erreichte schon bald die kleine Lichtung, auf der die Ponys angebunden waren.
    Er blieb stehen und erstarrte, versuchte sich davon zu überzeugen, dass das, was dort vor ihm lag, real war. Der Morgennebel verbarg alles bis auf die drei leblosen Körper vor ihm.
    Zwei Männer und eine Frau waren an die Pfosten des Gatters gebunden, ihre Kehlen aufgeschlitzt, die Hemden befleckt mit dem trüben Braun ihres getrockneten Blutes. Marek sträubten sich die Nackenhaare.
    In einer Ecke des Gatters kniete Adrek zu Füßen eines vierten Leichnams mit einem breiten Schnitt im Bauch. Es war sein Vater.
    Marek zwang seine eiskalten Füße dazu, sich zu bewegen, und ging um den Zaun herum. Aus dem Nebel tauchten weitere Körper auf,
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