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Im Winter der Löwen

Titel: Im Winter der Löwen
Autoren: Jan Costin Wagner
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Gesicht.
    »Kai, wir können jetzt nicht einfach …«, sagte Tuula.
    »Doch, können wir. Du solltest jetzt gehen, wir sind gleich wieder drauf«, sagte Hämäläinen und senkte den Blick auf die Fragen, die er Kapanen stellen würde. Eine nach der anderen. Nicht eine würde er auslassen.
    Tuula sah ihn noch eine Weile an, er spürte es, aber er hielt den Kopf über die Fragen gesenkt, und Tuula verschwand auf schwachen Beinen in blendendem Licht. Die Stimme in seinem Ohr zählte die Sekunden herunter.
87
    Salme Salonen wurde zur Vernehmung zum Polizeigebäude am Stadtrand von Helsinki gefahren. Sie leistete zu keiner Zeit Widerstand. In ihrer Handtasche wurde kein Messer gefunden, sondern nur ein Foto, das vermutlich ihren Mann und ihren Sohn zeigte, vor der winterlichen Kulisse von Stockholm.
    Sie saß reglos auf dem Stuhl in einem grauen Raum, während Sundström ihr Fragen stellte. Westerberg und Joentaa standen hinter der Glasscheibe, und Salme Salonen gab bereitwillig Auskunft. Sie sprach langsam. Ihre Stimme klang ruhig, sanft, klar und abwesend. Sie schien immer sehr genau nachzudenken, bevor sie einen Satz ausformulierte. Ja, ihr Name war Salme Salonen. Sie war achtundzwanzig Jahre alt. Geboren am 24. März 1980. Ja, sie lebte in Turku, Asematie 19. Sie war verheiratet gewesen mit Ilmari Mattila, sie hatte einen Sohn gehabt, Veikko Mattila. Sie war verwitwet.
    Name, Adresse, Geburtsdatum, dachte Joentaa, und auch Sundströms Stimme klang klar und sanft und merkwürdig abwesend. Auf der Frau, die aufrecht am Tisch saß, schien eine Last zu ruhen, und von Sundström schien eine Last abgefallen zu sein.
    »Beruf?«, fragte Sundström.
    Bis zum 17. Februar dieses Jahres hatte Salme Salonen als kaufmännische Angestellte in der Buchhaltung einer Firma gearbeitet, die Kinderspielzeug herstellte. Den Einsturz einer Eishalle in Turku am späten Nachmittag desselben Tages hatte sie schwer verletzt überlebt. Sie hatte mehrere Knochenbrüche sowie ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten und drei Monate und zwei Wochen im Krankenhaus verbracht.
    Gemeinsam mit anderen Angehörigen führte sie einen Rechtsstreit mit einer Firma, die das Dach der Eishalle vor neunzehn Jahren konstruiert und wenige Wochen vor dem Einsturz renoviert hatte. Der Inhaber der Firma hatte das Land verlassen und galt als nicht auffindbar. Die Beweisführung zu den Ursachen des Unglücks war nicht abgeschlossen.
    Sie sprach von einer Freundin, Rauna.
    »Rauna?«, fragte Sundström.
    »Meine Freundin«, sagte Salme Salonen. »Sie lag neben mir, als der Himmel eingestürzt ist.«
    Sundström schwieg.
    »Sie kann sehr gut Schlittschuh laufen. Sie tanzt auf dem Eis, Veikko lacht, und Ilmari rutscht aus. Ilmari ist ein schlechter Läufer, aber es stört ihn nicht. Dann stürzt der Himmel ein, und Rauna liegt neben mir. Wir sehen uns an.«
    »Kennen Sie … Rauna schon lange?«, fragte Sundström.
    »Nein. Wir sehen uns zum ersten Mal. Sie fragt mich, ob der Himmel eingestürzt ist und besucht mich in meinem Zimmer, im Krankenhaus. Es geht ihr besser. Sie hat nur einen gebrochenen Arm. Ich möchte sie adoptieren.«
    »Adoptieren?«, fragte Sundström.
    »Weil ihre Eltern tot sind.«
    »Ihre …«
    »Rauna wird bald sechs. Ihre Eltern waren auch in der Halle. Rauna lebt in dem Waisenhaus auf dem Klosterberg. Sie würde sich freuen, wenn wir zusammenleben könnten, aber es muss geprüft werden.«
    »Was … was muss geprüft werden?«, fragte Sundström.
    »Die Behörden prüfen, ob es möglich ist. Auch ein Psychologe prüft, ob es möglich ist. Ob ich geschäftsfähig bin.«
    Sundström schwieg wieder.
    »So nennen sie es. Komisches Wort«, sagte sie. »Ich denke häufig über Worte nach.«
    Die Frau lächelte ein wenig, und Joentaa dachte, dass das Lächeln Rauna galt.
    »Warum besuchten Sie am 8. November dieses Jahres die Talkshow Hämäläinen ?«, fragte Sundström.
    »Weil ich eingeladen wurde«, sagte sie.
    »Eingeladen … von wem?«
    »Von ihm. In dem Brief war auch ein Foto, mit Unterschrift.«
    »Eine … Autogrammkarte?«, fragte Sundström.
    »Ja. Und die Eintrittskarte. Ich hatte ja zugesagt, in der Sendung Ende des Jahres … also heute … über Ilmari und Veikko und den Tag in der Eishalle zu sprechen, und deshalb wurde ich eingeladen, bei einer Sendung vorher als Zuschauerin dabei zu sein. Als … Geschenk, weil sie … weil sie kein Honorar zahlen konnten.«
    Sundström starrte die Frau an.
    »Das hat mich auch gewundert. Das mit dem
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