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Im Winter der Löwen

Titel: Im Winter der Löwen
Autoren: Jan Costin Wagner
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das Programm mit dem entsprechenden Formular. Name, Anschrift, Geburtsdatum.
    »Wie ist Ihr Name?«, begann er.
    »Wie bitte?«
    »Ihr Name … ich benötige ihn für …«
    »Was für eine Bedeutung hat denn hier mein Name? Ich bin von Ari Pekka Sorajärvi vergewaltigt worden und möchte das anzeigen.«
    »Aber …«
    Die Frau begann unvermittelt, schrill und gedehnt zu schreien. Joentaa sah sie an. Sie saß scheinbar reglos und entspannt, und abgesehen von ihrem leicht geöffneten Mund deutete nichts darauf hin, dass sie es war, die den Schrei ausstieß. Einen tauben, schrillen Schrei.
    Der Schrei hallte nach, und ein Kollege stürzte ins Zimmer.
    »Alles in Ordnung hier?«, fragte er.
    »Ja, kein Problem«, sagte Kimmo Joentaa.
    »Na, dann«, sagte der Kollege. Er zögerte noch kurz, dann wünschte er gutes Gelingen und schloss die Tür.
    Joentaa betrachtete die Frau, die ihm gegenüber saß und lächelte. Joentaa klang noch der Schrei in den Ohren.
    »Henrikinkatu 28«, sagte die Frau sachlich.
    »Das ist …«
    »Das ist die Adresse von Ari Pekka Sorajärvi.«
    »Ist dieser …«
    »Ari Pekka Sorajärvi.«
    »Ja … ist … oder war … er Ihr Freund?«
    »Mein was?«
    »Sind Sie … liiert oder verheiratet mit Ari Pekka Sorajärvi?«
    Die Frau starrte ihn an.
    »Nein, bin ich nicht«, sagte sie schließlich.
    »Woher …«
    »Ari Pekka Sorajärvi ist ein Kunde«, sagte sie. Joentaa schwieg.
    »Kunde. Sex für Geld. Schon mal gehört?«
    »Er ist also …«
    »Mein bester Kunde, wenn Sie es genau wissen möchten. Wollte immer ein bisschen mehr als die anderen, aber er hat auch ordentlich gezahlt.«
    »Ich verstehe«, sagte Joentaa.
    »Wie schön, dass Sie das verstehen«, sagte sie.
    »Aber … wieso kennen Sie seinen Namen … ist es nicht üblich, in diesen Kreisen … anonym zu …«
    Die Frau lachte. Lachte ihn aus. Lachte so laut, dass sicher gleich wieder der besorgte Kollege in der Tür stehen würde.
    »Sie sind verklemmt«, sagte sie, ein neuer Ton in ihrer Stimme, eine veränderte Wahl der Worte. »Sie müssen lernen, Ihre Sexualität anzuerkennen und auszuleben. Am besten, Sie fangen mit einem Film an. Einem pornografischen Film. Glauben Sie mir, das hilft. Möglicherweise liegt die Sache allerdings anders: Sie müssen daran arbeiten, Ihren Konsum pornografischer Filme drastisch zu reduzieren.« Sie hielt inne, fokussierte ihn mit leicht zusammengekniffenen Augen und schien nachzudenken. »Eins von beiden, entweder oder«, sagte sie schließlich.
    Einige Sekunden vergingen.
    »Da könnte was dran sein«, sagte Kimmo Joentaa.
    Jetzt lächelte die Frau, abrupt und zum ersten Mal freundlich. Joentaa erwiderte das Lächeln.
    Sie lächelten einander an oder aneinander vorbei.
    Joentaa wusste es nicht.
    »Und falls Sie sich darüber wundern, dass ich Ari Pekka Sorajärvis Namen kenne und seine Adresse.« Sie warf etwas auf den schneeweißen Tisch, der zwischen ihnen stand. »Das liegt daran, dass ich vorhin seinen Führerschein an mich genommen habe, während er seine gebrochene Nase verarztet hat.«
2
    Es ist nur noch ein Bild. Ein Bild, das nicht verhüllt werden kann. Das Bild zu verhüllen mit einem weißen Tuch. Einem Tuch von undurchdringlichem Weiß.
    Sie weiß, dass es nicht mehr gelingen wird. Der Glaube an das Weiß, das alles abdeckt, ist früher von Bedeutung gewesen, aber sie hat ihn verloren.
    Sie legt ein weißes Tuch über ihre Gedanken und sieht, wie es in einem lautlosen Prozess der Auflösung in seine Bestandteile zerfällt und den Blick freigibt auf ein anderes Tuch, ein blaues.
    Das blaue Tuch wird angehoben. Unter dem blauen Tuch liegt ein Mann. Der Mann hat ein Bein. Das Bein ist ein Stumpf. Es fehlt zur Hälfte. Das andere ist gar nicht mehr da.
    Unnatürlich krumm liegt der Mann auf der Bahre, seine Haut ist dunkel verfärbt. Neben dem Mann das blaue Tuch, über ihm ein lachendes Gesicht. Und noch eines. Und noch eines.
    Ein Arm greift nach dem Kopf des Mannes und biegt ihn zurecht. Jetzt kann sie das Gesicht sehen. Den Ausdruck in den geschlossenen Augen.
    In einem Bereich außerhalb ihres Blickfeldes lachen Menschen. Sie sind bei ihr, neben ihr, über ihr, unter ihr, aber sie kann sie nicht sehen. Sie hört nur ihr Lachen. Sie versucht, mitzulachen.
    Sie spürt, dass sie lacht, und sieht in das Gesicht des Mannes mit dem halben Bein und ist erleichtert, dass er sie nicht zu hören scheint. In dem Moment, in dem ihr Lachen abstirbt, endet auch etwas anderes, sie weiß nicht, was es
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