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Im Winter der Löwen

Titel: Im Winter der Löwen
Autoren: Jan Costin Wagner
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Kopf und ließ den Blick über die Fragen gleiten, die er nicht stellen würde. Fragen, die auf dem dunklen, glatten Holz ruhten, in Stichworte und Themenkomplexe gebannt, auf gelben Zetteln. Frau Salonen, Sie waren selbst Opfer des Unglücks am 17. Februar dieses Jahres in Turku. Haben Sie eine genaue Erinnerung an das Ereignis? Wie leben Sie damit? Wie lange waren Sie im Krankenhaus? Wie geht es Ihnen heute?
    Wie viel Zeit war vergangen?
    Er wusste es nicht. Im Nebel gestikulierte Tuula. Sie wedelte unkoordiniert mit den Armen, es war unmöglich, diese Signale zu deuten.
    Die Frau jenseits des Schreibtisches sah an ihm vorbei in weite Ferne. Sie sah weder glücklich noch traurig aus. Er hatte noch nie ein neutraleres Gesicht gesehen. Er kannte diese Frau nicht.
    Vielleicht war es das Kleid. Der Schatten eines Kleids, das er gesehen hatte.
    Vielleicht war es die Stille in ihrem Gesicht.
    Aus dem Nebel kommend schälte sich der sehr Gro- ße heraus. Er wirkte entspannt und lächelte ihm und auch der Frau aufmunternd zu. Er nahm die Handtasche und setzte sich auf den Stuhl, auf dem eigentlich der Feuerwehrmann hatte Platz nehmen sollen. Er legte leicht, kaum merklich eine Hand auf den linken Arm der Frau. Die Frau schien es nicht zu bemerken.
    »Haben Sie eigentlich Kinder?«, hörte sich Hämläinen fragen.
    Der sehr Große schüttelte den Kopf. »Leider nein«, sagte er.
    Hämäläinen nickte. Werbung, sagte die Stimme in seinem Ohr. Und dass die Sendung in drei Minuten und achtundfünfzig Sekunden fortgesetzt werde.
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    Sami, sein Sohn, und Meredith, die Tochter einer Arbeitskollegin, kugelten vor ihm auf dem Boden herum, und er fragte sich vage, warum die Tochter zweier Finnen eigentlich Meredith hieß, und wann und unter welchen Bedingungen kindlichen Spielereien dieser Art auch eine sexuelle Komponente zugeordnet werden musste.
    Er hatte erst kürzlich etwas darüber gelesen, einen interessanten Artikel in einer Fachzeitschrift, aber der Inhalt war ihm momentan nicht gegenwärtig, vermutlich weil ihn das Geschehen auf dem Bildschirm aus dem Konzept gebracht hatte.
    Jetzt lief Werbung. Eine wunderschöne Musik musste für den seichten Werbespot einer Automobilfirma herhalten.
    »Was war denn?«, fragte Seppo.
    Er drehte sich zu ihm und den anderen Gästen um, die noch am Tisch saßen und ihre Spieße ins Öl hielten.
    »Entschuldigt bitte«, sagte er. »Da … da war eine Patientin von mir.«
    »Eine Patientin von dir? Bei Hämäläinen?«, fragte Seppo.
    »Äh, ja.«
    »Die Frau, die da gerade saß?«, fragte Sami, der schwitzend am Boden lag und einen Moment nutzte, in dem Meredith von ihm abgelassen hatte.
    Er nickte.
    »Nein, nicht! Schluss, stopp!!«, rief Sami, weil Meredith wieder begonnen hatte, ihn zu kitzeln.
    »Und? Wie hat sie sich geschlagen?«, fragte Seppo.
    »Hm?«
    »Deine Patientin«, sagte Seppo.
    »Ah. Ich … ich weiß nicht genau«, sagte er.
    »Lass die Kiste ruhig laufen. Da tritt nachher noch Kapanen auf. Der Schauspieler. Das würde mich interessieren«, sagte ein anderer.
    Er nickte und nahm sich vor, gleich morgen bei Salme Salonen anzurufen.
    Dann stand er auf und kehrte an den Tisch zurück.
86
    Das Interview, das in den folgenden Tagen weiterhin als solches bezeichnet werden würde, obwohl die Gesprächspartner kein Wort miteinander gewechselt hatten, dauerte zwei Minuten und vierunddreißig Sekunden. Vier Minuten beanspruchte der anschließende Werbeblock.
    Während auf den Bildschirmen Werbung lief, führte der sehr Große Salme Salonen hinter die Kulissen. Hämäläinen sah den beiden nach und dachte, dass sie wie ein Paar aussahen, eng aneinander gelehnt, die Frau schien in einer Geste der Vertrautheit den Kopf auf die Schulter des Mannes zu legen.
    Hämäläinen fühlte sich sehr ruhig, ruhig wie lange nicht, und Tuula kam auf die Bühne und fragte, was los sei.
    Er schüttelte den Kopf und sagte: »Nichts.«
    »Nichts?«
    »Nein, nichts.«
    »Was … was war denn mit dieser Frau los?«
    »Nichts«, sagte Hämäläinen.
    »Was soll denn das heißen, Kai?«
    »Alles bestens«, sagte Hämäläinen. »Wer kommt als Nächstes?«
    »Wie bitte?«, fragte Tuula.
    Hämäläinen studierte seine Zettel. »Der Feuerwehrmann. Und dann Kapanen«, sagte er. »Wunderbar. Sollen reinkommen.«
    »Kai, wir müssen …«
    »Den Bond habe ich gesehen. Kapanen war ungeheuer gut«, sagte Hämäläinen.
    Aus dem Nebel tauchte eine Assistentin auf und strich mit einem Tuch über sein verschwitztes
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