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Die Herren der Zeit

Die Herren der Zeit

Titel: Die Herren der Zeit
Autoren: Helmut W. Pesch
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DIE LEGENDE VOM KLEINEN VOLK
    Es ist erstaunlich, wie sich in den verschiedensten Mythologien hartnäckig die Legende von einem kleinen Volk hält, das irgendwo im Nordwesten der Mittelreiche sein eigenes Land besitzt. Dieses Land, auf drei Seiten von Bergen geschützt und auf der vierten abgeschirmt durch die gefährlichen vorgelagerten Klippen der Küste, ist nur auf wenigen Wegen zugänglich: über den Berg und unter dem Berg, durch die Sümpfe und, wenn man es wagt, übers Meer.
    Die Einwohner dieses Landes gleichen in vieler Hinsicht den Menschen, mit Ausnahme ihrer minderen Gestalt und ihrer spitzen Ohren, die sie mit den Elben gemein haben. Sie sind, nach ihren eigenen Maßen gerechnet, mit vier Ffuß und acht Innch im Schnitt kleiner als diese, doch größer als die bärtigen Zwerge. Sie sehen sich als etwas Eigenständiges an, obwohl sie vieles mit den anderen Völkern der Welt gemeinsam haben: einen Sinn für Handel und Wandel wie die Menschen; eine Liebe zu den gewachsenen Dingen der Natur, wie sie den Elben eignet; und die Bodenständigkeit und das Traditionsbewusstsein der Zwerge. Ja, man könnte sagen, dass sie die besten Züge aller Völker vereinen, und dies mag auch ihren Namen erklären. Denn sie selbst nennen sich ›das Ffolk‹, popules in der alten Sprache der Gelehrten – ein Wort, das von der Form her Mehrzahl, vom Sinn und Gebrauch her aber Einzahl ist – und ihr Land das ›Elderland‹.
    Die Ffolksleute von Elderland sind stolz auf ihre Geschichte und ihre althergebrachten Sitten und Bräuche. Seit sie vor mehr als siebenhundert Jahren über das Gebirge nach Norden kamen, um in diesem bescheidenen Winkel der Welt ihr Dasein zu fristen, haben sie alles aufgezeichnet und bewahrt, was ihnen der Erinnerung wert erschien. Auch wenn darunter dies oder jenes sein mag, was manch einer als wertlosen Tand angesehen hätte: Stichtücher und irdenes Geschirr, Werkzeuge und Tabakspfeifen, Stammbücher und Register, bis hin zu den Listen über die Viehbestände im Nordviertel (steigend) oder die Fangquoten der Fischergilde von Eldermünde (fallend von Jahr zu Jahr).
    Es ist kein einfaches Leben, welches das Ffolk dort führt. Zwar sorgt eine warme Meeresströmung, die sich an den westlichen Küsten bricht, für ein gemäßigtes Klima, sodass in den Hügeln südlich des Flusses Eider sogar Wein gedeiht – ob trinkbar oder nicht, daran scheiden sich die Geister. Und die hohen, unübersteigbaren Gebirgsketten im Westen und Süden, die Elderland von der übrigen Welt trennen, bieten einen gewissen Schutz vor den ärgsten Unbilden des Wetters. Doch hier, weit oben im Nordwesten der bewohnten Lande, kommt die Ernte spät und erfordert harte Arbeit, so dass das Ffolk zu Recht stolz auf seine Leistungen ist.
    Von daher ist es nicht verwunderlich, dass neben dem Juncker von Gurick-auf-den-Höhen und dem Bürgermeister von Aldswick sowie dem Pastor, der in der Kirk von Eldermünde, und der Godin, die im Heiligtum zu Winder den Gottesdienst versieht, auch der Kustos des Ffolksmuseums von Aldswick dem ›Rat von Elderland‹ angehört, einem Gremium, das in Notzeiten so etwas wie die Regierung der Provinz darstellt. Darüber hinaus sehen die Ffolksleute sich als Bürger des Imperium Humanuni, des Reiches der Menschen, das von einem Kaiser im Süden regiert wird.
    Im Allgemeinen gibt es wenig für den Rat zu tun. Streitigkeiten entscheiden in der Regel die örtlichen Gutsbesitzer oder die Obleute der Gilden nach Brauch und Sitte. Dies beruht auf der Tatsache, dass das Ffolk von alters her jeder Art von Veränderungen grundsätzlich abhold war. Jene Liebe zum Althergebrachten ist bei den meisten Ffolksleuten indes gepaart mit einer geradezu widersinnigen Gier nach Neuigkeiten und einer unstillbaren Neigung zu Klatsch und Tratsch.
    Warum dieses kleine Ffolk von der Legende ausgerechnet jenseits des Sichelgebirges angesiedelt wird, mag sich aus der Hoffnung der Menschen erklären, die diese dunkle, blutdurchtränkte Stätte, wo es zu viel Macht und zu viel Magie gibt, lieber in der Hand von schwachen, friedfertigen Wesen sähen. Doch obwohl immer wieder Menschen erzählen, sie hätten dieses Land besucht – sei es als Reisende oder in ihren Träumen –, existiert es doch nur im Reich der Fantasie oder im Geiste des Göttlichen Paares, das sich längst aus der Welt zurückgezogen hat, die es einst schuf.
    Aus den Legendae Aureolis des Queribus Thrax in der Bibliotheca Arcana zu Allathurion; nach dem Index Librorum
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