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Im Winter der Löwen

Titel: Im Winter der Löwen
Autoren: Jan Costin Wagner
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In dem Moment, in dem sie zerbarsten, glitzerten sie in allen Farben.

1. Januar
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    Aapeli Raantamo erwachte von den Schritten. Und von den Tischen oder Stühlen, die hin- und hergeschoben wurden. Draußen war es noch dunkel. Die Uhr zeigte halb fünf an.
    Er hatte den Silvesterabend allein verbracht. Hatte sich eine Tomatensuppe gekocht und Nudeln mit Sahne, Curry und Krabben. Als es so weit war, hatte er sich das Feuerwerk angesehen. Das kürzlich zugezogene Paar von ganz oben hatte eine Party gefeiert, und er hatte in der Kälte vor dem Haus mit schlotternden Beinen in einer Traube junger Leute gestanden, und einige hatten ihn umarmt und ihm alles Gute gewünscht.
    Er hatte den Wunsch erwidert und nach Salme Ausschau gehalten, aber sie war nicht da gewesen, und in ihrer Wohnung hatte kein Licht gebrannt. Er hatte das Pärchen aus dem Dachgeschoss gefragt, das eng umschlungen das Feuerwerk verfolgt hatte. Sie hatten auch nicht gewusst, wo Salme war.
    Aber jetzt schien sie da zu sein. In ihrer Wohnung wurden Stühle gerückt, er hörte Schritte und Stimmen. Er setzte sich aufrecht und konzentrierte sich auf die Geräusche. Stimmen von Männern, gedämpft, aber gut zu hören. Jetzt auch Schritte im Treppenhaus. Mehrere Männer.
    Er stand auf, zog sich seinen Mantel und die Hausschuhe an und öffnete die Tür. Das Treppenhaus war hell erleuchtet, ein Mann rempelte ihn an, als er hinaustrat.
    »Tschuldigung«, murmelte er und hastete weiter nach unten. Aapeli Raantamo ging nach oben. Die Tür zu Salmes Wohnung stand offen. Er näherte sich behutsam. Als er an der Tür stand, kam ihm aus der Wohnung ein großer, breitschultriger Mann entgegen und sagte: »Hier gibt es nichts zu sehen.«
    »Entschuldigung«, sagte Aapeli. »Wer … wer sind Sie denn?«
    Der Mann schien barsch antworten zu wollen, hielt dann aber inne und sagte: »Sie wohnen hier?«
    »Ja. Unten. Ein Stockwerk unter … Salme.«
    Der Mann nickte. »Mein Name ist Grönholm, Kriminalpolizei. Wie heißen Sie?«
    »Aapeli … Aapeli Raantamo. Wo … ist denn Salme? Ist alles in Ordnung?«
    »Haben Sie nicht ferngesehen?«
    »Wie … wieso?«
    »Egal. Ich muss hier weitermachen. Ich würde später bei Ihnen …«
    »Doch«, sagte Aapeli.
    »Wie bitte?«
    »Doch, ich habe ferngesehen. Gestern Abend.«
    »Dann müssen Sie Frau Salonen doch erkannt haben.«
    »Ich … ich habe einen alten Film angeschaut. Mit Cary Grant«, sagte Aapeli.
    »Oh«, sagte Grönholm.
    »Was … was ist denn mit Salme?«
    Der Mann schwieg eine Weile. »Ich komme nachher zu Ihnen. Schlafen Sie noch ein wenig. In Ordnung?«
    Aapeli nickte, und der Mann wandte sich ab und kehrte in die Wohnung zurück. Salmes Wohnung. Aber Salme war nicht da.
    Aapeli ging langsam die Treppe hinunter. Etwas Schlimmes, dachte er. Irgend etwas Schlimmes. Seine Hände zitterten, als er den Fernseher einschaltete. Den Videotext.
    Die erste Überschrift lautete: Mörderin bei Hämäläinen auf dem Sofa . Darunter stand: Mutmaßliche Täterin Salme S. während Talkshow festgenommen . Eine Zeile darunter, grün eingefärbt : Die Chronologie der Ereignisse . Darunter Sport. Skispringen. Ein Finne hatte die Qualifikation in Garmisch-Partenkirchen gewonnen. Aapeli betrachtete die Sätze. Er las und las und verstand nicht. Er spürte, wie die Kraft aus seinem Körper wich.
    Er setzte sich auf sein Bett und konnte den Blick nicht von den Sätzen auf dem Bildschirm nehmen. Oben, in Salmes Wohnung, Schritte und gedämpfte Stimmen von Männern. Irgendwann wendete er den Blick ab und sah auf dem Tisch die Karte, die am Kerzenständer lehnte. Salmes Weihnachtswünsche.
    Er stand auf, ging zum Tisch, nahm die Karte und klappte sie auf. Ilmari und Veikko, in Stockholm. Salme hatte bestimmt das Foto gemacht. Seine Hände begannen wieder zu zittern, jetzt so stark, dass ihm die Karte aus der Hand fiel.
    Er setzte sich auf den Stuhl und sah hinab auf die am Boden liegende Karte, während draußen die Dunkelheit dem beginnenden Tag wich.
91
    Eine freundliche Schwester legte ihm neue Verbände an. Behutsam führte sie die weißen Streifen von der Hand bis nach oben zu den Ellenbogen.
    »Danke«, sagte er.
    »Keine Ursache«, sagte sie.
    Im Wartezimmer waren auf einem Fernseher, zu dem er fast senkrecht hatte aufschauen müssen, die Nachrichten gelaufen.
    Auf dem Foto hatte Salme S. rote Haare gehabt und ein merkwürdiges Kostüm getragen. Es wurde darauf hingewiesen, dass das Bild einige Jahre alt war. Über die Hintergründe
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