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Im Winter der Löwen

Titel: Im Winter der Löwen
Autoren: Jan Costin Wagner
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sei bislang wenig bekannt, hatte die sachliche Stimme des Sprechers gesagt. Die Pressekonferenz der Ermittlungsbehörden sei für 14 Uhr angekündigt und werde live übertragen.
    »Sagen Sie …«, sagte Nuutti Vaasara.
    »Ja?«, fragte die Schwester.
    »Könnte man das noch etwas lockern? Weil ich … wahrscheinlich heute wieder arbeiten sollte.«
    »Arbeiten. Heute ist doch Neujahr. Ich dachte, dass heute nur so Leute wie wir arbeiten. Was machen Sie denn?«
    »Ich bin Puppenbauer.«
    »Oh«, sagte sie. »Marionetten?«
    »So ähnlich.«
    »Meine kleine Tochter liebt Puppentheater. Kürzlich war eines bei uns im Gemeindehaus. Ganz klassisch. Mit Kasperle, Rotkäppchen und dem Wolf.«
    Vaasara nickte.
    »Müssen Sie wirklich heute arbeiten? Sie sollten es noch ein wenig langsam angehen lassen.«
    »Ich weiß. Es ist nur so, ich stehe etwas unter Zeitdruck.« Weil Harri nicht mehr lebt, wollte er hinzufügen, aber er verschluckte den Satz.
    »Lassen Sie mal sehen«, sagte sie und begann, den Verband an den Handflächen zu lockern und die Finger freizulegen. »So besser?«, fragte sie nach einigen Minuten.
    »Ja. Danke«, sagte er. Er streckte die Finger und ballte sie zur Faust. »Ja, das müsste gehen.«
    Sie lächelte. »Passen Sie auf sich auf. Und alles Gute«, sagte sie, und er bedankte sich ein weiteres Mal, bevor er ging. Auf dem Fernseher flimmerte ein Foto des Gerichtsmediziners und eines von Harri, als er den Eingangsbereich durchquerte. Er blieb eine Weile stehen. Die Fotos verschwanden, der Ansager wurde eingeblendet. Dann eine Palmenlandschaft mit Toten. Sorgsam aufgereiht lagen sie vor einem Flugzeugwrack. Die Leichen waren mit glitzernden Decken verhüllt worden, aber einige Arme ragten heraus.
    Nuutti Vaasara wendete sich von den Bildern ab und lief nach Hause. Das flache blaue Haus lag fremd in hohem Schnee. Vor der Tür lagen Zeitungen, Briefe und Werbeprospekte kreuz und quer. Er öffnete die Tür und ging direkt mit langen Schritten durch die Trenntür und den Gang entlang ins Atelier.
    An der Wand lehnte der Clown, der diesen Polizisten, Joentaa, aus der Fassung gebracht hatte. Vermutlich, weil er einen Toten in den Armen hielt. Vaasara stand eine Weile unschlüssig, dann hob er die Puppe aus den Armen des Clowns und legte sie an der entgegengesetzten Wand ab, in einem Winkel, in dem sie kaum zu sehen war.
    Auf dem Werktisch lag eine Frau mittleren Alters. Eine Wasserleiche. Die Puppe, an der Harri in den Tagen vor seinem Tod gearbeitet hatte. Der Auftrag drängte, denn der Drehtermin für die Filmszene war in zwei Wochen. Die Produktionsfirma hatte angerufen, und Vaasara hatte zugesichert, die Puppe termingerecht zu liefern.
    Er trat an den Tisch heran und verharrte auch hier eine Weile reglos. Er spürte Widerwillen, Ehrfurcht, eine Freude, die er nicht erklären konnte, und eine Angst, die ihm seit Tagen in den Knochen hing.
    Er schloss die Augen und atmete einige Male tief durch. Dann beugte er sich über die Masse und begann, behutsam und beharrlich, Harri Mäkeläs letzte Puppe zu vollenden.
92
    Kimmo Joentaa fuhr gegen Mittag zurück nach Turku, um Grönholm zu unterstützen. Sundström blieb in Helsinki und trat mit Westerberg und einem Vertreter der Staatsanwaltschaft vor die Presse. Heinonen hatte sich für einen weiteren Tag krankgemeldet.
    Als er am Rand der Stadt ankam, steuerte Joentaa den Wagen an der Innenstadt vorbei und auf den Klosterberg. Er kannte das Waisenhaus. Sanna hatte ihn vor Jahren darauf aufmerksam gemacht, als sie an einem ähnlich sonnigen Wintertag an dem zitronengelben Haus vorbeispaziert waren.
    Er konnte sich an das Gespräch nur noch vage erinnern, aber Sanna hatte die Frage aufgeworfen, ob es sinnvoll sei, eigene Kinder zu haben, wenn so viele allein aufwüchsen. Er hatte nur genickt und sich bemüht, interessiert zu wirken, weil er damals keine Bindung zu dem Thema gehabt hatte, weder zu eigenen noch zu fremden Kindern.
    Er lief nach oben und sah den Kindern zu, die rechts und links von ihm auf Schlitten vorüberschossen. Als er die helle Eingangshalle betrat, fragte ihn eine junge Frau nach seinem Anliegen. Er wies sich aus und bat darum, die Leiterin oder den Leiter der Einrichtung zu sprechen.
    »Pellervo Halonen«, sagte die Frau. »Kommen Sie, wir schauen, ob er da ist.«
    Sie fanden Pellervo Halonen in einem großen Raum, in dem Kinder spielten und Bücher blätterten. Die Mitarbeiterin holte ihn aus einem Gespräch, und Halonen kam schnell auf ihn zu.
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