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Im Tal der Schmetterlinge

Titel: Im Tal der Schmetterlinge
Autoren: Gail Anderson-Dargatz
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müssen.«
    Jeremy leerte sein Glas und knallte es auf den Tisch. »Mehr Limonade!«, sang er.
    »Einen Augenblick, Jeremy.« Ich beugte mich über den Tisch zum Fernseher. »Kann ich das wenigstens leiser drehen?«
    Ezra saß am Tisch. »Ich sagte, ich werde das Kalb schlachten. Ich tu’s noch heute Vormittag.«
    »Wir müssen packen, und du solltest dich ein wenig ausruhen.«
    »Du denkst, ich schaff das nicht.«
    »Was ist mit Onkel Dan?«, fragte ich meinen Vater. Dan war der Bruder meiner Mutter.
    »Ich will nicht, dass er das lahme Kalb sieht«, sagte mein Vater.
    »Er weiß, dass es dir in letzter Zeit nicht gut ging. Niemand macht dir deshalb einen Vorwurf.«
    »Ich habe gesagt, ich werde es tun!«
    »Mehr!«, sang Jeremy aus voller Kehle. »Mehr!«
    »Jeremy, sei bitte still«, sagte ich, und selbst als ich ihm das Glas wegnehmen wollte, knallte er es noch einmal auf den Tisch.
    Ezra schlug mit der Faust auf die Tischplatte und brachte mein Glas zum Überschwappen. Ein Schwall Limonade ergoss sich über den Boden. »Ruhe, Herrgott!«, brüllte er. »Warum musst du die ganze Zeit so verdammt laut sein?«
    Jeremy begann zu weinen, und ich zog ihn auf meinen Schoß, um ihn zu beruhigen.
    Ich sah, wie meine Eltern einander besorgte Blicke zuwarfen.
Anschließend schaltete meine Mutter den Fernseher aus und bückte sich dann, um die Limonadenlache aufzuwischen. Als Jeremy immer noch weinte, drehte ich ihn zu mir herum und hielt sein Gesicht fest. »Wir müssen Daddy zuliebe ruhig sein, Jeremy. Er liebt dich. Es ist der Lärm, der ihn wütend macht, nicht du.«
    Jeremy fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Eklige Gerüche machen Daddy auch wütend, so wie Grandmas Parfüm.«
    Peinlich berührt lachte ich kurz auf. Der Duft ihres Lavendelpuders. Das hatte ich erst vor kurzem herausgefunden: Seit dem Schlaganfall lenkten Ezra selbst Gerüche ab, und es kostete ihn große Anstrengung, sich auf ein Gespräch oder eine Aufgabe zu konzentrieren, wenn von seinem Gegenüber ein starker Duft ausging. Bis zu dieser Erkenntnis wäre mir nie in den Sinn gekommen, dass er sich manchmal allein wegen meines Parfüms von mir zurückzog und zornig wurde.
    »Mein Vater war genauso«, sagte meine Mutter, während sie sich am Tisch abstützte und vom Boden hochzog. »Lärm machte ihn wahnsinnig. Wenn er erschöpft war, verbrachte er ganze Tage im Bett und hatte die dunkelgrünen Vorhänge zugezogen. Sonst jammerte und schrie er, weil ihm das Licht Schmerzen bereitete. Von uns erwartete er, wie ein krankes Kind behandelt zu werden. Wenn er an einem heißen Tag Eis wollte, bekam er Eis. Meine Mutter kurbelte an der Eismaschine, bis sie schwitzte, ihr die Arme versagten und ich übernehmen musste. Wir taten alles, um einen Wutanfall zu vermeiden. Mein Job war es immer, das Eis mit dem alten Eisportionierer aus der Maschine zu kratzen und ihm eine Schüssel zu bringen. Ich habe dir den Eisportionierer geschenkt, nicht wahr?«
    Ich nickte. Ein wunderschöner antiker Eisportionierer mit
einem Holzgriff und dem Firmennamen Gilchrist’s , der auf dem Zangengriff eingraviert war. Obwohl die Schaufel verbeult war und den Anschein machte, als wäre sie als Hammer zweckentfremdet worden, funktionierte der Mechanismus einwandfrei.
    Meine Mutter setzte sich wieder in ihren Schaukelstuhl und nahm ihren Schreibblock. »Ich mag immer noch kein Eis. Es erinnert mich an ihn und diese schlimmen Tage.«
    »Es tut mir so leid«, sagte Ezra. Jetzt, da er sich beruhigt hatte, glich sein Gesichtsausdruck dem eines Mannes, der gerade aus dem Schlaf hochgeschreckt war. Er zog Jeremy aus meinen Armen auf seinen Schoß, doch in dem verzweifelten Versuch, sich zu befreien, drückte Jeremy den Rücken derart über den Knien seines Vaters durch, dass er beinahe den Fußboden berührte. Als Ezra ihn aufrecht hinsetzte und ihn erneut umarmen wollte, biss ihn Jeremy in die Hand. »Verdammt!«, rief Ezra.
    Jeremy rannte blitzschnell um den Tisch. »Verdammt! Verdammt! Verdammt!«
    »Jeremy, komm her!«, sagte ich. »Wir beißen nicht. Beißen tut weh. Du entschuldigst dich jetzt!«
    »’Tschuldigung, Daddy.«
    Ezra streckte die Arme aus, doch Jeremy barg den Kopf in meinen Armen. Ich sah zu Ezra. »Gib ihm ein paar Minuten. Dann wird er alles wieder vergessen haben.« Und schon im nächsten Augenblick trat meine Vorhersage ein. Noch während Jeremy auf meinem Schoß saß, klopfte er gegen die Küchenscheibe hinter mir und zeigte aus dem Fenster. »Wer ist der
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