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Im Tal der Schmetterlinge

Titel: Im Tal der Schmetterlinge
Autoren: Gail Anderson-Dargatz
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aufhörte, nervös mit dem Geschirrtuch herumzuspielen. »Da gab es nichts zu erzählen«, sagte er.
    »Warum hat Grandma dann Valentines Foto bei sich getragen?«
    »Valentine und Maud waren alte Freunde, lange bevor deine Mutter und ich geheiratet haben«, sagte mein Vater. »Er hat das Gewächshaus für sie gebaut.«
    »Ja, aber warum hat sie sein Bild bei sich getragen und kein anderes, keines ihres eigenen Ehemanns oder ihrer Kinder oder meinetwegen ihrer Enkel?«
    Meine Mutter griff nach dem Schreibblock und dem Stift
und setzte sich wieder in den Schaukelstuhl. »Jeden Frühling suchte er wild wachsende gelbe und violette Veilchen und brachte ihr einen Blumenstrauß. Ich erinnere mich, wie meine Mutter mir einmal schnell einen Blick zuwarf, als sie meinem Vater erzählte, ich hätte ihr die Veilchen gepflückt, während ich die Kühe von der Weide holte. Das ist die einzige Lüge, bei der ich sie je ertappt habe.«
    »Waren sie und Valentine mehr als bloß Freunde?«
    Meine Mutter blickte zu mir auf. Der graue Star ließ ihre Augen milchig aussehen, beinahe gespenstisch. Sie schien mich nicht anzuschauen, sondern regelrecht durch mich hindurchzustarren. »Meine Mutter war eine sehr schöne Frau. Sogar mit über sechzig hatte sie noch die Aufmerksamkeit der Männer, wenn sie die Straßen in Kamloops entlangspazierte. Ich erinnere mich an einen Tag, kurz vor deiner Geburt, als wir einkaufen waren und sie einen Gentleman anlächelte, der ihr eine Tür aufhielt - nur ein freundliches Dankeslächeln; meine Mutter war nie kokett -, aber er wandte sich um, folgte ihr und versuchte sie in ein Gespräch zu verwickeln. Sie gab ihm natürlich höflich einen Korb.«
    Ich steckte die Hände in die Taschen meiner Jeans und blickte zu Valentines Blockhütte und dem unfertigen Haus. Da bemerkte ich, dass ich in mein eigenes Gesicht starrte, das sich dort, wo die Äste des Flieders das Licht abschirmten, schwach im Fenster spiegelte. Das billige Glas rief ein Bild hervor, das verzerrt und unscharf war, doch ich konnte meine lange Nase und den vollen Mund ausmachen, das dunkle Haar und die dunklen Augenbrauen. Mein Spiegelbild war ein Abbild von Maud als junger Frau, und trotzdem hatte ich im Laufe der vergangenen sechs Jahre, seit Ezras Schlaganfall, jegliches Vertrauen verloren, so eine Leidenschaft hervorrufen zu können wie meine Großmutter.

    »Aber du musst die Zeit berücksichtigen, in der sie lebten«, sagte meine Mutter. »Ich wüsste nicht, dass Valentine je etwas anderes als Mrs. zu ihr gesagt hätte.«
    Ich drehte mich um. »Mrs.?«
    »Einfach nur Mrs.«
    Meine Mutter beugte sich wieder über ihren Notizblock. Sie schrieb das Gespräch auf, das wir gerade geführt hatten. Es war ihre Angewohnheit, selbst die nichtigsten Kleinigkeiten ihres Lebens festzuhalten, direkt nachdem sie sich ereignet hatten. In diesen Momenten war sie genauso abwesend wie ein Tourist, der seinen Urlaub durch die Linse seines Camcorders betrachtet. Doch selbst wenn ich sonst wenig an meiner Mutter verstand, glaubte ich diese Eigenart nachvollziehen zu können, denn das Schreiben verband uns beide. Ich vermutete, dass sie alles niederschrieb, um den Augenblick zu bewahren, seine Vergänglichkeit aufzuhalten, dem Verlust Einhalt zu gebieten. Natürlich waren das nur meine eigenen Projektionen. Ich fragte sie nie, weshalb sie wie eine Besessene schrieb. Ich nahm an, sie notierte jede Einzelheit ihres Lebens aus denselben Gründen, aus denen ich schrieb: um den Dingen einen Sinn zu geben, den zufälligen Ereignissen des Lebens eine Bedeutung zu verleihen und sich zu erinnern - da das Gedächtnis ein derart launenhafter Begleiter ist, auf den man sich nicht verlassen kann.

3.
    ICH GAB JEREMY eine weitere Portion Cheerios, stellte mich dann ans Fenster und aß meinen Toast, während meine Eltern Judge Judy schauten. Ezra war auf der Ladefläche unseres Pick-ups damit beschäftigt, die Kisten und Taschen mit den Sachen meiner Mutter umzuschichten, um mehr Platz zu schaffen. T-Shirt und Jeans waren seine neue Uniform geworden, jetzt, da er wieder auf einer Farm arbeitete. Sie hatten die feinen Hemden und gebügelten Hosen abgelöst, die er vor seinem Schlaganfall als Englischdozent am College getragen hatte. Doch auch während er seinen Lebensunterhalt mit Unterrichten verdiente, hatte er sich mit der Selbstsicherheit eines Mannes bewegt, der an körperliche Arbeit gewöhnt war. Seine großen Farmerhände hatten nie ihre Schwielen verloren, da er
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