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Im Tal der Schmetterlinge

Titel: Im Tal der Schmetterlinge
Autoren: Gail Anderson-Dargatz
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Großvater schleuderte die Bretter fort, mit denen der Brunnen abgedeckt war, und befahl meiner Mutter, die Mauleselin rückwärts auf das Loch zuzuführen. Als Nelly sich weigerte, den letzten Schritt ins Loch hinein zu machen, schlug er das Tier mit der Peitsche. Ihr Körper zitterte, als sie den Halt verlor, und blickte flehend zu meiner Mutter auf, während sie fiel.
    Meine Mutter versuchte, ihrem Vater das Gewehr abzunehmen, damit sie Nelly erschießen und es von seinem Leid erlösen konnte, doch er entriss ihr die Waffe. Als meine Mutter weglaufen wollte, zerrte er sie am Arm zurück und zwang sie, Nelly beim Sterben zuzusehen. Der Brunnen war mit ungefähr drei Metern Wasser gefüllt, und es gab an den Seiten keinerlei
Halt für das Tier. Meine Mutter konnte die Eselin kaum sehen, nur ab und an das Aufblitzen ihrer Augen oder einen Teil des Mauls dort unten in der Dunkelheit. Aber sie konnte das Tier hören, wie es schnaubend mit den Beinen um sich schlug.
    »Ich habe Nelly beim Ertrinken zugehört«, sagte meine Mutter und wischte sich Tränen aus den Augen. »Dann musste ich den Spaten holen, und wir verbrachten den restlichen Tag damit, Erde in das Loch zu schaufeln, um den Leichnam zu verscharren. Es war schon dunkel, als wir zum Abendessen ins Haus gingen. Der Brunnen war trotz allem noch tief. Als die Bretter, mit denen er abgedeckt war, allmählich verrotteten, machte ich mir schreckliche Sorgen, dass du in das Loch fallen könntest. Ich habe dir immer wieder verboten, dort hinzugehen, nicht wahr?«
    »Ja. Viele Male.« Doch wie bei allen verbotenen Dingen ging eine unbeschreibliche Faszination davon aus. Ich hockte mich damals oft ins Gras und pflückte Götterblumen, die nur am dunklen Rand des Brunnens zu finden waren. Ich warf Steine hinein, ließ unzählige weiße Blütenblätter der Gänseblümchen hinabsegeln, kniete mich hin und sang ein Lied, um meiner eigenen Stimme zu lauschen, die aus der Tiefe verzerrt zu mir heraufdrang. Ich stellte mir den Brunnen im Querschnitt vor, mit dem knochigen Kopf der Mauleselin, der wie ein Pfeil nach oben zeigte und mit den Sedimentschichten um ihn herum in Zwietracht lebte. Die Knochen des Tieres, die in der Schwärze weiß aufleuchteten. So viel Zeit war verstrichen, und dennoch war der Brunnen immer noch vorhanden, ebenso wie Nelly, deren Augenblick des Todes in Erde verewigt war.

4.
    WENN ICH HEIMWEH hatte, vermisste ich nicht das dunkle Farmhaus meiner Eltern, sondern die Bäume und Büsche: Pappeln, Fichten und Weiden, Obstbäume und Felsenbirnen-Sträucher, die die Auffahrt säumten, unser Zuhause umgaben und gegen die teuflischen Winde aus dem Tal abschirmten. Winde, die durch die Bäume pfiffen und jetzt auch das Feuer schürten. Der Flieder, die köstlich duftende schmalblättrige Ölweide und die mit leuchtenden Beeren übersäte Eberesche, die man überall auf dem Hof fand. Die Kirsch-, Äpfel-, Pfirsich- und Nektarinenbäume des Obstgartens. Die sinnliche Form der Pflaumen, die an dem Baum reiften, vor dem Ezra auf einer Leiter stand und den er gerade zurückschnitt. Der Baumstamm war von den tiefen Narben einer Krankheit gezeichnet und erinnerte mich an Fotos, die ich vom Gehirn eines Alzheimerpatienten gesehen hatte: Große Teile des gefurchten Hirngewebes waren abgestorben und schwarz. Als Kind hatte ich in diesem Baum gesessen und Kerne fortgeschleudert, während ich die lilafarbene Haut einer Pflaume mit den Zähnen abnagte, um an das warme gelbe Fleisch im Inneren zu gelangen. Doch nun trugen nur noch zwei der knorrigen Äste Früchte.
    »Was tust du da?«, fragte ich Ezra.

    »Dieser Baum muss gestutzt werden.«
    »Er sollte gefällt und verbrannt werden.«
    »Er bringt immer noch Früchte hervor.«
    »Du hast das weiche Herz eines Präriejungen. Nicht jeder Obstbaum ist es wert, dass man ihn behält.«
    »Solange er Früchte hat, sehe ich keinen Grund, ihn auszuradieren.«
    »Kann ich eine haben?«, fragte Jeremy und zeigte auf eine Pflaume.
    »Natürlich.« Ich streckte die Hand aus und drückte eine der Früchte, um zu überprüfen, ob sie reif war. Dann wischte ich sie an meinem T-Shirt ab und reichte sie Jeremy. »Bei diesem Wind ist es gefährlich, auf einer Leiter zu stehen.« Ezra antwortete nicht. »Du hast Dad versprochen, das Kalb heute Morgen zu schlachten.«
    Er drehte sich auf der Leiter um und schaute zu mir herab. »Warum bremst du mich bei allem, was ich tun will?«
    »Das stimmt nicht. Es ist nur so, dass wir jetzt mit dem
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