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Im Sog der Gefahr

Im Sog der Gefahr

Titel: Im Sog der Gefahr
Autoren: Toni Anderson
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und sie zitterte. Sie wollte weglaufen, aber sie konnte sich nicht rühren.
    »Was hast du mit meiner Kleinen gemacht?« Ihre Stimme klang belegt und rau. Die Unschlüssigkeit machte sie bewegungsunfähig, und vor Angst klapperten ihr die Zähne. Sie konnte ihre kleine Tochter nicht im Stich lassen, und mit dem Baby auf dem Arm konnte sie nicht weglaufen.
    Der Mann holte die andere Hand hinter dem Rücken hervor und ließ etwas zu Boden fallen. Etwas Rotes. Leahs Jacke.
    »Wo ist sie?« Verängstigt, aber zugleich wütend machte sie einen halben Schritt nach vorn. Am liebsten wäre sie auf den Mann losgegangen. Wo war Leah? Was hatte er ihr angetan? Sie trat noch einen Schritt näher, und da erkannte sie ihn. Unter der Woge der Erleichterung bekam sie weiche Knie und geriet ins Taumeln. Erleichterung. Reue. Wut.
    Warum trug er diese dämliche Maske? Wie konnte er es wagen, ihr solche Angst einzujagen? »Wo ist sie?«
    In den Bäumen flogen Vögel auf. Eine kurze Explosion aufgeschreckter Federn.
    Er schwieg. Mit einem verwirrten Schnauben blies sie die Luft aus.
    Warum sagte er nichts? Das verstand sie nicht. Mit der freien Hand packte sie ihn am Hemd und schüttelte ihn, um ihn zum Antworten zu bringen. Er roch nach Wald – rauchig und erdig.
    Sie sah auf ihren wunderhübschen Jungen hinab, der von dem Fremden ganz verzaubert zu sein schien.
    War es
das
, was er wollte?
    Verunsichert hielt sie das Baby ein Stück höher. Das erste Lächeln ihres Sohns war das Letzte, was sie sah, bevor etwas Schweres gewaltsam ihren Schädel zertrümmerte.

1
    Heute
    Finn setzte die Tauchbojen und vergewisserte sich, dass die Lampen eingeschaltet und die Verankerungen gesichert waren. »Fertig?«
    Sein Chef nickte und überprüfte ein letztes Mal die Ausrüstung.
    Finn reichte ihm eine Stablampe. »Schalte sie jetzt noch nicht ein.« Er ließ den Blick über die Felsklippen schweifen, von denen die geschützte Bucht umgeben war. Auf den vereinzelten Felsen wuchsen knorrige Kiefern und Douglastannen. Crow Point – abgelegen und dünn besiedelt. Keine Chance auf Rettung, falls etwas schiefging.
    Der Tag kroch der Dämmerung entgegen. Wenn sie wieder auftauchten, würde es vollständig dunkel sein. Er war im örtlichen Meereskundelabor für die Tauchsicherheit und Taucherausbildung verantwortlich, und bei einem so gefährlichen Tauchgang keine Oberflächencrew zu haben verstieß gegen sämtliche Vorschriften.
    Die Bedingungen
waren
perfekt.
    Es war der niedrigste Stand einer Nipptide, die See lag glatt und ruhig da, und in der Vorhersage gab es absolut nichts Besorgniserregendes. Aber dieser Teil von Vancouver Island hieß nicht ohne Grund
Friedhof des Pazifiks,
und sich auf die Vorhersage zu verlassen war etwas für Dummköpfe und Anfänger. Der Barkley Sound war berüchtigt für seine heftigen Sturmböen und plötzlich aufbrandenden Wellen, die wie aus dem Nichts kamen, um einen in die erbarmungslosen, dunklen Tiefen hinabzureißen und nie wieder loszulassen. »Bist du sicher, dass du das tun willst?«, fragte er.
    Professor Thomas Edgefield, Direktor des Bamfield Marine Science Centers, nickte und stand unbeholfen auf. Drei Druckluftflaschen waren auf seinem Rücken befestigt – zwei große Flaschen und eine kleinere Pony-Flasche. Wenn das hier kein Fall für
Fehlertoleranz und integrierte Redundanz
war, hatte es nie einen gegeben. Er schlurfte zur Tauchplattform am Heck des Boots. Während Thom seine Flossen anzog, kontrollierte Finn, ob die Schläuche bei seinem Tauchpartner so gesichert waren, dass sie sich nicht im Wrack verfangen konnten. Thom erwiderte den Gefallen und klopfte Finn auf die Schulter, als sie beide bereit waren. Thom schob sich den Atemregler in den Mund, hielt seine Maske fest und ließ sich ins Wasser fallen. Nach einem letzten Blick auf die düster vor sich hin brütenden Felsen folgte Finn ihm.
    Der erste Schock war wie immer die Kälte, als der Pazifik auf seine nackte Haut traf.
    Er gab Thom ein Zeichen, und der erwiderte die Geste mit dem abwärts gerichteten Daumen. Sie tauchten an der Referenzleine entlang bis zur Ankerleine, ehe sie in den Bereich schwammen, in dem sie vor zehn Tagen ein unbekanntes, bisher nicht registriertes Schiffswrack entdeckt hatten.
    Der zweite Schock war wie immer die unheilvolle Stille. Die gedämpften, erstickten Geräusche, die das Bewusstsein für den eigenen Körper, Atmung und Herzschlag steigerten. Eine trügerische Stille, die den Verstand einlullte und das
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