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Im Schatten von Montmartre

Im Schatten von Montmartre

Titel: Im Schatten von Montmartre
Autoren: Léo Malet
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Frauen — Göttinnen der Rache oder die
Hexen von Macbeth — waren nichts weiter als ganz gewöhnliche Wachsfiguren. Wer
hatte eben noch vom Museum Grévin gesprochen?
    Auch wenn ich das Gefühl hatte, mich in einem
Traum zu bewegen, so träumte ich doch nicht. Polizeioffizier Sébastien, der auf
seinen Titel soviel Wert gelegt hatte, mußte ebensowenig geträumt haben — und
würde es in Zukunft nie wieder tun! — , als sein mißtrauischer Flic-Dickkopf
mit dem Arm oder dem Bein einer dieser anmutigen Imitationen in Kontakt
getreten war. Arm oder Bein waren spontan zu einem wirkungsvollen Knüppel
avanciert.
    Ich fing wieder an zu lachen, diesmal jedoch wie
ein normaler Mensch. Ein leises, für Nestor Burma so typisches Lachen.
    Ich war jetzt wieder voll und ganz bei Sinnen.
    Schnell machte ich mich auf die Suche nach dem
Filmarchiv. Ich mußte nicht lange suchen. Zwischen der Leinwand und einem der
Spiegel auf der linken Seite entdeckte ich mehrere Wandschränke, deren
verschlossene Türen man leicht mit der Vertäfelung verwechseln konnte. Eine der
Türen war vor kurzem ohne jede Rücksicht aufgebrochen worden. Das Holz war von
oben bis unten gespalten.
    Ich öffnete den aufgebrochenen Schrank. Er
enthielt zwei weitere Wachspuppen, die jedoch splitterfasernackt waren. Eine
von ihnen war einarmig. Ihr kaputter Arm lag auf dem Schrankboden. Ich hob ihn
auf. Seine teilweise abgeblätterte „Haut“ wies verdächtige braune Flecken auf,
an denen noch Haare klebten. Die von Polizeioffizier Sébastien, nahm ich an.
    Ich legte das Kunstglied zur Seite, nahm ein
Schlüsselbund von einem Haken und öffnete die anderen Schränke.
    So entdeckte ich eine vollständige
Damengarderobe und schließlich, in den Fächern des letzten Schrankes, eine
Menge Filme in Blechdosen. Jetzt mußte ich nur noch den aus dem Haufen
herausfischen, der mit Marguerite Chevrys Hilfe gedreht worden war. Ich holte
die Filmrollen einzeln heraus und besah mir die Etiketten. Die Aufschrift Chev weckte mein Interesse.
    In diesem Moment wurde wieder gelacht, und eine
Stimme rief aus heiterem Himmel:
    „Könnten Sie mir verraten, was Sie hier suchen,
Monsieur?“
    Oben auf der kurzen Treppe stand eine Frau. Sie
war nicht aus Wachs. Eine Frau unbestimmbaren Alters, auf deren Erscheinen ich
nicht gefaßt gewesen war. So als wär’s das Natürlichste auf der Welt, zielte
sie mit einem Revolver auf mich.
    Hastig geschminkt, mit zuviel Rouge auf den
Lippen, aber sehr elegant in ihrem figurbetonten Cocktailkleid, so schwebte sie
wie ein Racheengel über mir. Die toupierten Haare verliehen ihr das Aussehen
einer Wölfin.
    Wäre der aufgeweckte, eifrige Angestellte von
der Gepäckaufbewahrung der Gare de Lyon hier gewesen, hätte er sie sicherlich
als die Frau identifiziert, die am Samstag den schäbigen Koffer aufgegeben
hatte. Ja, so ist das. Die Welt ist klein.
    „Nehmen Sie die Hände hoch, bitte!“ forderte sie
mich höflich auf.
    Ich gehorchte. Mit der Filmrolle in der Hand sah
ich aus wie ein Angestellter der Metro, der auf dem Bahnsteig mit seiner
Signalkelle das Zeichen zur Abfahrt gibt. Und in der Tat, ich stand kurz vor
einer seltsamen Reise...
    Die Waffe zielsicher in der Hand, kam die Frau
die wenigen Stufen herunter.
    „Umdrehn!“ befahl sie, als sie sich auf einer
Ebene mit mir befand.
    Ich gehorchte wieder. Mit Vergnügen, da mein
rechtes Bein, bereit zum Ausschlagen, schon nervös zitterte. Durch einen
verstohlenen Blick in den Spiegel vergewisserte ich mich, daß sich mein Ziel in
Reichweite befand. Dann ließ ich meinem Bein freien Lauf. Um meine Chancen zu
verbessern, brachte ich auch die Filmrolle ins Spiel... Rrrrums! ... Oh,
verdammt, daneben! Die Frau wich aus und schlug mit dem Pistolenknauf zu. Ich
versuchte nun meinerseits, ihrer Attacke auszuweichen, konnte aber nur meinen Kopf,
nicht meine Schulter in Sicherheit bringen. Der Schmerz durchfuhr meinen Arm
und schickte liebe Grüße an meine Nackenmuskeln.
    In einer eleganten Drehbewegung ging ich zu
Boden, nahm alle meine Kräfte zusammen und packte die nylonbestrumpften Beine
meiner Gegnerin.
    Wir wälzten uns am Boden, umschlungen und
hoffnungslos ineinander verkeilt. Mal lag ich oben, mal sie. Das Tonnenspiel.
Die Frau hielt ihren Revolver umklammert, und es würde nicht lange dauern, bis
er von selbst losging. Ich versuchte, ihr Handgelenk zu packen, ohne ihre Beine
freizugeben; doch diese schwierige Gymnastikübung übertraf meine Fähigkeiten.
    Eine der Wachspuppen
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