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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels
Autoren: Anika Lüders
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diese Langweiler! Möchtest du ein paar Tage zu Einar ins Schloss? Du könntest dort helfen und mit den Kindern spielen. Würde das nicht Spaß machen?»
    Þorgerður beruhigt sich und nickt, holt die Bücher und geht hinauf zu Mutter.
    «Kannst du deine Mutter nicht dazu bringen, etwas leiser zu singen?», fragt Vater ein wenig später und setzt sich zu dir. «Auf dich reagiert sie viel besser als auf mich.»
    Du sitzt an der Nähmaschine. Vater ist erschöpft. Alle sind erschöpft.
    «Aber Väterchen, das ist eines der wenigen Dinge, die sie noch zum Zeitvertreib hat. Sie hat nicht mehr viel.»
    Trotzdem musst du einsehen, dass der Gesang kräfteraubend ist, besonders nachts. Du hattest gedacht, dass sie mit dem Singen aufhört, sobald sie aus dem Käfig kommt, doch das hat nichtsgeändert. Langsam gewöhnst du dich an den Lärm. Vielleicht ist das Ermüdendste, Tag und Nacht auf sie aufpassen zu müssen, wenn sie frei ist.
    «Willst du vielleicht versuchen, ihr etwas vorzulesen? Daran hat sie so viel Freude.»
    «Ich hatte die Idee, Einar ein paar Tage lang zu besuchen und ihm ein bisschen zu helfen», sagt Vater und tut so, als hätte er die Frage nicht gehört. «Ich möchte auch Jón treffen. Glaubst du, dass das in Ordnung wäre, Liebes?»
    Du siehst ihn an, krumm und grau. Weißt noch, wie gut er mal aussah. Weißt noch, wie gut sie beide damals aussahen. Wie stolz du auf sie warst, als du und Stefán konfirmiert wurdet. Die Schönsten weit und breit. Stefán! Er ist schon seit Jahren nicht zu Hause gewesen. Mit einer norwegischen Frau verheiratet, und er hat eine kleine Tochter. Ist Organist in einer norwegischen Kirche.
    «Glaubst du, dass das in Ordnung wäre, Liebes?», fragt er noch einmal. Du nimmst seine Hände, die er dir entgegenstreckt, und sagst ihm, dass er sich beeilen solle. Das werde ihm nur guttun. Rechnest damit, dass auch Mutter ruhiger sein wird. Sie ist immer am ruhigsten, wenn er nicht in der Nähe ist. Sagst, dass du bei ihr schlafen wirst.
    Er lächelt dankbar und fragt nun, was du da nähst. Vielleicht macht er das, um Interesse zu zeigen, oder er wundert sich, dass die Kleider so klein sind. Du hättest es ihm längst sagen sollen. Aber du wolltest es ihr zuerst sagen. Hast die ganze Zeit gehofft, dass die Wolken aufbrechen und ihr miteinander reden könnt. Ihr beide, wie früher. Hat er deinen dicken Bauch wirklich nicht bemerkt? Vielleicht sieht er auch nicht mehr so gut.
    «Was meinst du, was das ist, Väterchen?», fragst du und reichst ihm kleine Hemdchen.
    Er befühlt sie mit schwachen Händen, sieht dich an, sagt aber nichts.
    «Es wird ein Herbstkind», sagst du und lächelst.
    «Und der Vater?»
    «Einst war hier eine Magd, die so lange wie möglich für sich behalten hat, wer der Vater war», antwortest du und wirfst ihm einen scharfen Blick zu.
    «Aber die Nachforschungen haben gezeigt, dass das Kind vom Bauern des oberen Hofes war», antwortet er ohne Umschweife. «Ein verheirateter Mann.»
    Du wirst beides sein, Vater und Mutter, und du weißt, dass du das schaffen wirst. Musst bloß deinen Frieden haben. Möchtest dich um Mutter und das Kind kümmern. Deine Privatsache geht niemanden etwas an.
    «Wenn es ein Mädchen wird, soll es Pálína heißen!» Du schenkst ihm dein strahlendstes Lächeln. Er springt vom Stuhl auf und reißt die Arme hoch.
    «Bist du von Sinnen, Mensch!»
    Du schneidest das Garn durch und siehst dir das Ergebnis an. Faltest das Hemdchen zusammen und nimmst das nächste.
    «Ein Engelchen wird es in jedem Fall, es sei denn, es wird ein Junge, dann könnte ich ihm den Namen Vigfús geben, wenn du nichts dagegen hast! Mach dich nun schnell auf den Weg, Väterchen, und bestell Grüße im Schloss.»
    Er steht einen Moment verwirrt da, antwortet dann irgendetwas, doch du verstehst nichts wegen des Ratterns der Nähmaschine. Aus dem Augenwinkel siehst du, dass er geht und leise die Tür hinter sich schließt.

X
    Der Tod hat gerufen,
die Stund’ ist nun da,
eine abschiedsträchtige, empfindsame Stund’.
Die Freunde sagen Lebewohl
dem verstorbenen Freund,
der seinen letzten Schlummer schläft in dieser Rund’.
    «Wieso darf ich nie raus? Wo ist meine Nähmaschine? Lasst mich raus! Ich habe Bestellungen, kann sie nicht abarbeiten. Ich langweile mich so furchtbar.»
    Vieles ist zu erinnern,
für vieles ist zu danken,
Gott sei gepriesen für die vergang’ne Zeit.
    «Wo ist Jón? Warum kommt er nie? Hast du mich vergessen, Jón? Nun komm zu deiner Mutter!
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