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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels
Autoren: Anika Lüders
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Ich möchte dich sehen!»
    Du schaust die Wiese hinauf. Dort steht das neue Haus. Im Vergleich zum alten ist es riesig. Zwei Stockwerke und ein angebauter Stall, eine hohe Eingangstreppe mit Geländer. Der graue Beton wirkt kalt, aber im nächsten Sommer wird das Haus gestrichen. Wie es wohl sein wird, in einem Steinhaus zu wohnen? Ingi wollte unbedingt ein Haus aus Beton bauen, und Vater hatihn unterstützt. Du hättest dich für ein stattliches Holzhaus entschieden, eines wie Großvaters Schloss. Wirst schöne Gardinen nähen und sie vor alle Fenster hängen – nur vor eines nicht.
    Ingi hat jetzt eine Frau. Sie heißt Hafdís und erwartet ein Kind. Das alte Haus war für die große Familie viel zu klein geworden.
    Du hast Ingi gesagt, dass du und der kleine Engel hierbleiben werdet, solange Mutter lebt. Vielleicht geht ihr dann zu Anna nach Reykjavík und nehmt Þorgerður mit.
    Im oberen Stock des neuen Hauses ist ein kleines Zimmer. Es ist unter einer Dachschräge, fast wie ein Schrank mit Bett, Tischbrett und kleinem Dachfenster. Dort soll Mutter hinein. Sie bekommt das wenige Licht, das durchs Fenster fällt. Du hast Angst vor dem Umzug, aber dann wird sie auch den Verschlag los. Vielleicht hört sie auf, zu schreien und um sich zu schlagen, wenn sie im neuen Haus ist. Und den Verschlag wirst du verbrennen. Auf diesen Tag hast du lange gewartet.
    Hoffentlich braucht sie nicht so lange, um sich an den neuen Ort zu gewöhnen. Dass sie sich bloß nicht aufregt.
    Das Wetter ist mild. Du wäschst Mutter und hilfst ihr beim Anziehen und Kämmen. Dann schlägst du vor, nach draußen zu gehen. Sie will ein Pferd satteln und zu ihrem Papa reiten. Es gelingt dir, sie zu überreden, die Reise um einen Tag zu verschieben.
    «Furchtbar, was für ein Dummkopf du bist», sagt sie auf einmal schnippisch. «Papa ist schon lange tot. Bist du so eine Verrückte, dass du das nicht weißt?»
    Du lächelst, antwortest aber nicht. Du möchtest sie so weit wie möglich vom Haus wegführen. Die Männer machen den Umzug.Einar ist mit seinen Jungs gekommen. Und jetzt geht alles drunter und drüber. Tumult und Aufruhr erträgt sie nicht. Einmal bist du schon wütend geworden, du erwartest von ihnen, dass sie wenigstens ein kleines bisschen Rücksicht nehmen.
    Ihr lauft mit gemächlichen Schritten die Wiese hinunter. Sie scheint das Draußensein zu genießen, schaut zum Gletscher, starrt hoch in die Wolken. Ist in ein langes Zwiegespräch mit Kristbjörg vertieft. Flucht wie der Teufel! Die Hunde schnuppern herum und haben ihren Spaß mit dem kleinen Engel.
    «Es ist schon lange her, dass Papa vorbeigeschaut hat, oder?», fragt sie plötzlich.
    «Stimmt», antwortest du, weil es nichts als die Wahrheit ist.
    «Hoffentlich ist mit Mutter alles in Ordnung. Diese teuflisch verfluchten Frauengeschichten, die der Kerl immer hat. Darf ich mich jetzt setzen?», fragt sie und sieht sich um. Ihr setzt euch auf ein altes Stück Hofmauer.
    «Was für ein Haus ist das?», fragt sie mit einem Mal.
    «Großmutter, weißt du das denn nicht? Das ist das neue Haus. Wir ziehen heute um, und du bekommst ein eigenes Zimmer!», ruft der kleine Engel. Die Sonne glänzt in ihrem kupferroten Haar, und Sommersprossen bedecken das ganze Gesicht.
    «Ein neues Haus», antwortet sie und lächelt. «Das ist wirklich gut. Im Sarg ging es mir nie so besonders.»
    Du holst tief Luft. Sie ist ruhig, fast normal.
    «Ja, da war dein Vater ziemlich stur, dass er es so haben wollte», murrt sie. «So eine armselige Hütte. Erdboden in der Küche.» Dann fügt sie hinzu: «Jetzt kann ich endlich die Schule eröffnen! Im alten Haus war kein Platz. Hoffentlich wird es nicht zu eng im Wohnheim. Meinst du, dass der Platz einigermaßen ausreicht?»
    «Ich denke schon», sagst du schnell und betest, dass der kleine Engel keinen Einwurf macht.
    Mutter legt sich rücklings auf die Mauer und macht ein Nickerchen. Du deckst sie zu und bittest den kleinen Engel, still zu sein. Siehst sie schlafen und lächelst. Was sie wohl träumt? Sicher von ihrem Papa und dem Schloss, von Großmutter Katrín oder Halldóra, Onkel Ingi, der ertrunken ist, von Stickerei und Orgelspiel. Von dänischen Kleidern!
    Die Zeit hat sie verändert – und die Medikamente. Du hättest so vieles wissen wollen. Wie war sie als junges Mädchen? Waren sie und Vater verliebt? Sie kamen dir immer so grundverschieden vor. Wie haben sie zusammengefunden?
    Der kleine Engel kommt mit einem Strauß Butterblumen und
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