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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels
Autoren: Anika Lüders
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Löwenzahn angelaufen. Sie kann sich nicht zügeln vor lauter Freude, und Mutter wird aus dem Schlaf gerissen.
    «Immer werde ich gepiesackt», sagt sie ärgerlich, reibt sich die Augen und reißt sie auf. «Warum darf ich nie mal in Frieden schlafen?»
    «Großmütterchen, nicht böse sein. Du darfst diese Blumen für dein neues Zimmer haben», sagt der kleine Engel und reicht ihr den Strauß. «Und ich werde dir jeden Tag Blumen bringen.»
    Mutter lächelt ihre Enkeltochter an, lächelt sie immer an, obwohl sonst niemand ein Lächeln von ihr bekommt. Dann nimmt sie die Blumen, doch ihre Augen sind leer, und du musst ihr noch einmal die Geschichte vom neuen Haus erzählen. Hat alles komplett vergessen. Da steht sie energisch auf.
    «Ist es etwa ganz gardinenlos, Mädchen? Und die Schule fängt doch schon fast an! Was müssen wir zuerst nähen – Sommer- oder Wintergardinen?»
    Du weißt nicht, ob du lachen oder weinen sollst, als ihr gemeinsam in Richtung Hof lauft.
    «Lasst mich raus! Warum bin ich in einen Schrank eingesperrt? Wo ist die Orgel? Bringt mir die Nähmaschine! Lasst mich raus! Hier will ich nicht sein. Katrín, komm und rette mich … Ingi, Ingi, wo bist du?»
    «Großmutter, hör auf zu schreien! Der arme Großvater ist schon ins alte Haus geflüchtet, weil er deinen Krach nicht erträgt.»
    «Hör sofort auf, zu schlagen, du darfst sowieso nicht raus. Wenn der Sommer da ist und du dich beruhigt hast, machen wir einen Spaziergang, und ich nehme dich an der Hand. Hör mir zu! Dann darfst du auch mit uns essen.»
    «Ich bin auf der anderen Seite der Wand ganz bei dir. Hör auf mich, Großmütterchen. Sei nun ruhig. Das kleine Kind von Hafdís fürchtet sich zu Tode vor dir!»
    «Großmutter, hör auf, gegen die Wand zu treten, sonst gehe ich.»
    Vieles ist zu erinnern,
für vieles ist zu danken,
Gott sei gepriesen für die vergang’ne Zeit.
Vieles ist zu erinnern,
vieles wird man missen,
Gott trocknet die Tränen der Traurigkeit.
    Na sieh mal einer an: Hulda – bist du zu mir gekommen? Ich muss mit dir reden. Nicht gehen! Da oben ein Gewölbe, das Fenster einen Spalt offen – und Orgelklänge. Wer spielt da? Mein Bruder Ingi …
    Und Mutter!
    Gib mir deine Hand. Jetzt werde ich nie mehr von dir fortgehen.

~
    Bei Sonnenaufgang macht sie sich auf, hält kurz inne und wirft einen Blick über die Schulter. Das Zimmer ist länglich, und das Bett an der einen Wand nimmt fast den ganzen Raum ein. Der Nachttisch ist ein Brett, das zwischen Bett und Wand geklemmt worden ist. Drei Haken an der langen Wand gegenüber des Bettes. Dort haben lange Zeit ein schwarzer Wollrock, eine Schürze und ein Schultertuch gehangen. Platz für einen Stuhl gibt es nicht. Über dem Kopfende hängt ein Kalender. 23. April 1938.
    Hoch oben über allem ein Dachfenster mit vier Scheiben. Dadurch sieht man den Himmel und einen Teil des östlichen Berggipfels oberhalb des Hofes.
    Manchmal sind durch dieses Fenster auch Möwen im Flug zu sehen oder ein vereinzelter Rabe taucht auf. Diese Nacht saß dort eine Schwalbe. Die Tür fällt zu, innen ohne Griff.
    Die Luft draußen ist klar, und Morgenrot fällt auf die Berge ringsum. Es ist, als wolle der Winter die verschneite Erde nicht loslassen. Bisher hatte er im Kampf gegen den Frühling immer eine Niederlage einstecken müssen, doch nun will er ihn mit aller Kraft aufhalten.
    Überall glänzt Eis in den Senken und Rinnen. Obwohl Flüsse und Seen noch vereist sind, legen die Vögel schon Eier, und von den Felswänden oberhalb des Hofes kündigt sich ein bekannter Frühlingsbote an.
    Draußen am Sander beginnen die Raubmöwen ihr Frühlingswerk, laut und geschäftig. Eiderenten watscheln umher, höflich und umgänglich, geben acht, nicht im Weg zu stehen.
    Sie kommt gut voran und hat den Skriðuberg schon hinter sich. Am Hang steht das Schloss, und es steigt Rauch auf. Einzelne Fensterscheiben glänzen in der Morgensonne, und er läuft ihr den Weg hinunter entgegen. Leichtfüßig, mit verschmitztem Blick. Seine kräftige Hand umfasst die ihre, der weiche Bart kitzelt ihre Wange. Sie ist zu Hause.

 
    1. Auflage. 2011
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2011
Umschlaggestaltung: Leander Eisenmann, Zürich
Umschlagabbildung: Leander Eisenmann; Gudjonsdóttir Klempert/ bobsairport.com ; getty Images/John Francis Bourke
ISBN Buch   978 3 406 62174-1
ISBN eBook 978 3 406 62175 8
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