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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels
Autoren: Anika Lüders
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so, Þorgerður, streck dich. Stell dich gerade hin, auf die andere Seite der Wohnstube. Lies nun laut und klar!»
    Zuerst liest sie langsam, legt dann aber an Tempo zu. Ich höre, dass sie das Gedicht auswendig kann, sie schaut kaum ins Buch. Als sie fertig ist, klatsche ich. Dann bringe ich ihr bei, sich so zu verbeugen, wie es die Schauspielerinnen im Zunfthaus gemacht haben. Da lacht sie laut und verbeugt sich wieder und wieder.
    «Vielleicht wirst du ja Schauspielerin!» Und jetzt muss ichihr von den Theateraufführungen erzählen. Oft hört auch Anna zu, doch sie will nicht laut lesen. Einmal habe ich Jón gefragt, ob er sich zu uns setzen wolle. Er antwortete nicht, ging einfach hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.
    «Geh weg», sagt er scharf. Ich wirble in der Küche herum, und er bringt Wasser. «Steh nicht immer im Weg.»
    Ich sehe Jón die schweren Eimer schleppen. Er ist nicht groß, aber kräftig gebaut, vielleicht das stärkste aller Kinder, und gleichzeitig das ungehobeltste. Ich mache unbeirrt weiter, gebe aber acht.
    «Steh nicht immer im Weg!» Er hat noch mehr Wasser geholt. Ich gehe in die Wohnstube, setze mich an die Orgel und beginne zu spielen. Wenn er sich so aufführt, geht man ihm am besten aus dem Weg. Doch er kommt hinter mir her.
    «Musst du so laut spielen?», fragt er mürrisch.
    «Sollen wir zusammen singen?»
    «Singen?», schnaubt er.
    «Weißt du eigentlich, dass Papa mir die Orgel geschenkt hat? Du sollst sie einmal haben», sage ich und versuche, mir nichts anmerken zu lassen.
    «Dann werde ich sie verbrennen», sagt er und geht aus dem Zimmer, ruft aber noch: «Du hast ja sowieso schon den Deckel zerschmettert und kaputt gemacht.»
    Ich bleibe sitzen und kämpfe mit den Tränen. Dann reiße ich mich zusammen und spiele weiter.
    «Sei nicht immer so böse zu Mutter. Sie näht dir etwas zum Anziehen für Pfingsten», höre ich kurz darauf Þorgerður sagen. Die beiden sind in der Küche. Sein Gemurmel ist zu leise, als dass ich es verstehen könnte, doch ein wenig später bemerkeich ihn in der Wohnstube. Er sieht mich verstohlen an, sagt aber nichts, und ich tue so, als würde ich ihn nicht bemerken. Es ist schwierig, dunklen Stoff zu verarbeiten, wenn es nur so wenig Licht gibt, und ich brauche länger als sonst. Ich glaube auch, dass sich mein Sehvermögen beträchtlich verschlechtert hat. Trotzdem versuche ich immer, beim Nähen gerade zu sitzen, wie man es uns in der Mädchenschule beigebracht hat.
    Jón sieht mir zu, geht dann hinaus – diesmal ohne Türenknallen. In den nächsten Tagen merke ich, dass er mich beobachtet. Was er wohl denken mag?
    «Möchtest du diese Hose mal anprobieren?», frage ich ihn eines Tages. Er wirft einen Blick darauf, und ich rechne fast damit, dass er hinausstürmt, doch dann nimmt er die Hose, begutachtet sie und schlüpft hinein.
    «Sie scheint ganz gut zu passen», sage ich zufrieden.
    «Sie ist viel zu lang!»
    «Ja, ich muss noch den Saum einschlagen», antworte ich. «Komm her und lass mich die Länge nehmen.» Ich beuge mich hinunter und gebe mir große Mühe mit der Hose. Finde es schön, etwas für ihn tun zu können. Hoffe, dass er nicht mit Geschrei davonstürmt.
    Er steht wie angewurzelt. Als die Länge stimmt und er die Hose ausziehen darf, sagt er: «Sie ist schön.»
    Er sagt das sehr leise, doch ich höre es trotzdem, und es durchströmt mich warm. Ich zeige auf den hellen Stoff auf dem Tisch und frage, ob ich ihm vielleicht auch noch ein Hemd nähen soll.
    Er sagt nichts, nickt aber, und jetzt lächelt er.
    «Dann lass mich Maß nehmen», sage ich und bin nur angemessen freundlich, glaube, dass es so besser ist. Muss michzurückhalten. Würde ihm am liebsten sanft über die Wange streicheln. Ich schwinge das Maßband und notiere die Maße. Er steht da wie eine Puppe.
    «So, jetzt kannst du gehen», sage ich, bete aber, dass er bleibt. Er befühlt den Hemdenstoff mit beiden Händen und sagt nichts. Ich hoffe, dass niemand hereinplatzt, hoffe, dass wir so lange wie möglich allein in der Wohnstube bleiben.
    «Ich danke dir, Mutter», flüstert er ganz leise, doch ich höre es trotzdem. Dann rennt er los und ist schon durch die Tür verschwunden. Ich summe und lächle und mache mich daran, die Hose zu kürzen.
    In den nächsten Tagen nähe ich weiter. Die Hose ist fertig, steif geplättet hängt sie neben dem hellen Kleid auf einem Bügel und wartet auf Pfingsten. Jón treibt sich in meiner Nähe herum, viel fröhlicher als
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