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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels
Autoren: Anika Lüders
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gelandet sei, wo er auch hingehöre. Ich lausche Kristbjörg gebannt, spüre, wie mich ein Schauder durchströmt und sich auf den Armen bis hoch zu den Schultern die Gänsehaut ausbreitet.
    Die Stallstube ist warm. Wir wohnen oben, wo das Fenster ist, im Dunkeln darunter sind die Kühe. Dazwischen ein Holzboden. Es ist schön, sie abends zu hören, wenn man einschläft. Manchmal kommt es aber auch vor, dass sie sich mitten in der Nacht im Stall unter der Stube streiten. Dann schrecke ich auf und fürchte mich. Papa sagt, dass sie sich wegen eines Bullen zanken. Dann lacht er laut auf.
    Papa und Mutter schlafen ganz hinten links in der Stube. Ein kleiner Bruder hat bei ihnen geschlafen. Er lebte nur kurz, und bevor er starb, hat Papa ihn mit einer Nottaufe getauft. Er bekam den Namen Pálmar. Mutter befürchtet, dass Gott der Allmächtige nicht zufrieden ist, weil es Papa war, der ihn getauft hat. Großmutter sagt, dass alles in beste Ordnung komme und Großvater bis in alle Ewigkeit auf Pálmar aufpassen werde.
    Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Großvater war fast blind, als er starb, und konnte nicht einmal auf sich selbst aufpassen. Wie soll er da auf Pálmar aufpassen? Großmutter sagt, dass Großvater im Himmel sofort neues Augenlicht bekommen habe. Ich sehe einen Engel vor mir, der in der Tür zum Himmel steht und allen Blinden beim Eintreten neue Augen in die Höhlen drückt. Hoffentlich blendet es Großvater jetzt nicht, mit den neuen Augen.
    Es ist schön, auf der grasigen Torfmauer zwischen den Hofgebäuden zu sitzen und in den Himmel zu schauen, wo ich Pálmarim Abendrot sehe. Er hat ziemlich kleine Flügel. Wie sehr ich auch suche, Großvater taucht nicht auf. Ob ich ihn mit den neuen Augen vielleicht einfach nur nicht wiedererkenne?
    Ich schlafe bei Kristbjörg und Ninna bei Magga, unserer Magd. Magga riecht gut, und am liebsten würde auch ich bei ihr schlafen. Ich selbst darf mich nachts kaum bewegen. Dann stöhnt Kristbjörg und hat Schmerzen im ganzen Körper.
    Ingi und Gauja schlafen im selben Bett, doch sie will nicht bei ihm schlafen, weil er so viele Winde abgehen lässt. Ingi schubst Gauja und sagt, dass Furzen männlich sei. Trotzdem gibt er acht, dass Mutter ihn nicht sieht, und er vertraut darauf, dass Gauja sich nicht beklagt. Er findet, dass viel zu viele Frauen auf dem Hof sind. Papa findet das nicht. Er sagt, dass es nie genügend Frauenzimmer gebe. Dann zwinkert er mit dem rechten Auge und grinst schief.
    Gunnhildur schläft bei Großmutter, die Knechte weiter vorn in der Stube. Der eine von ihnen heißt Sigurður, und ich glaube, dass er Magga heiraten möchte. Er hat ihr ein Tuch geschenkt, als er vor einigen Tagen vom Handelsplatz zurückkam. Ich träume davon, so gut wie Magga zu duften. Sie ist hübsch, hat blonde Zöpfe und trägt sie wie einen Kranz um den Kopf. Ihre Zähne sind weiß und außergewöhnlich schön. Hoffentlich schenkt mir auch mal jemand ein Tuch, vielleicht auch öfter als ein Mal.
    Das Gesellschaftszimmer hat einen Holzgiebel und einen Dielenboden. Es gibt ein paar Stühle und einen Tisch mit einer hübschen gehäkelten Tischdecke. Auf dem Tisch liegt der Almanach des Verbands isländischer Patrioten mit der Jahreszahl 1884 auf dem Buchrücken. Dort steht auch MDCCCLXXXIV.Die Buchstaben bereiten mir Kopfzerbrechen, bis Papa erklärt, dass das römische Zahlen sind, und er mir beibringt, sie zu lesen. Das macht Spaß, und jetzt verwandle ich alle Zahlen in römische, aber meine Schwestern schimpfen mich aus und sagen, dass ich immer ein Dummkopf bleiben werde. Heimlich poliere ich die Glasfenster im Gesellschaftszimmer. Dort steht auch die braune Porzellankanne mit den aufgemalten Rosen, die niemand berühren darf. An der Wand hängt ein Bild von Maria und dem Jesuskind.
    Meine Schwester Ninna sagt, dass Maria Jesus küsse, aber in Wirklichkeit beißt sie ihm in die Hand. Warum sollte sie sonst die Oberlippe so hochziehen und ihre Zähne zeigen, wie die Hunde es tun, wenn sie trockenen Fisch verschlingen? Ninna sieht das nicht und sagt, dass das hässliche Gedanken seien. Ich halte den Mund. Wenn man nicht dasselbe denkt wie Ninna, kann sie einen in die Hölle kläffen. Eigentlich müsste sie Kläfferin heißen, aber das wage ich nicht laut zu sagen.
    Manchmal füllt sich die Küche mit Rauch. Der steht dann so dicht, dass die Frauen es irgendwann nicht mehr aushalten, wie sehr sie auch die Augen zukneifen. Als Erste schiebt sich die alte Kristbjörg nach
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