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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels
Autoren: Anika Lüders
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Ich muss auf Gunnhildur aufpassen und laufe heulend zu Papa. Nachdem ich eine Weile gejammert habe, sagt er, dass sich eine Lösung für Gunnhildur finden werde und ich bei den anderen sein dürfe.
    Kristbjörg behauptet, dass Papa mir verdammte Teufelsflausen in den Kopf setze, und sie sagt auch, dass er mir besser eine Tracht Prügel verpassen sollte, als mir alles durchgehen zu lassen. Als würde mir Papa jemals den Hintern versohlen!
    In Reykjavík spielen die Damen Harmonium. Das steht auf dem Boden, ist so groß wie viele Akkordeons zusammen, und man muss auf einem speziellen Stuhl davor sitzen. Das und vieles mehr erzählt uns Guðmundur.
    Ich träume endlose Träume, in denen ich mitten in einem Raum auf einem hohen Stuhl sitze und ein Lied nach demanderen auf einem nigelnagelneuen Harmonium spiele. Die Töne daraus sind viel schöner als die, die Papas Akkordeon macht. Sie sind so schön, dass ich unendlich lange spiele.
    Den Winter über lag Kummer in Mutters Augen. Vor ein paar Tagen hörte ich Guðmundur sagen, dass sie eine starke Frau sei, und in seiner Stimme schwang Bewunderung mit. Er unterhielt sich mit Kristbjörg. Ganz gegen ihre Gewohnheit sprach sie leise, und ich hörte nicht, was sie sagte. Später sagte er zu Mutter, dass sie eine klare Singstimme habe. Mutter wurde ein bisschen rot und sah fröhlicher aus. Am Tag danach schallte
Den tapre Landsoldat
über den ganzen Hof.
    Wir haben einen Bruder bekommen. Er ist groß und hübsch und heißt Pétur Jakob. Papa rief den Pfarrer, und der taufte ihn, als er gerade mal einen Tag alt war. Mutter kann Pálmars Nottaufe nicht vergessen – niemand weiß, ob der Kleine in den Himmel gekommen ist. Deshalb hatte sie selbst schon den Pfarrer gebeten, gleich nach der Geburt zu kommen. Mutter fand es nicht schlimm, dass das Kind wie zwei Apostel heißt. Papa meinte, dass es am besten gewesen wäre, ihn einfach Jesus Christus zu taufen. Dann lachte er laut und lange, Mutter schwieg.
    Ich sitze draußen auf der Torfmauer und ringe nach Luft. Der Vogel hat sich Stück für Stück hoch in meinen Hals gezwängt, und jetzt steckt er fest. Heute ist Kreuzerhöhungsmesse und Gesindewechsel, es kommt eine neue Magd. Sie heißt Halldóra, ist nicht mehr ganz so jung und bringt einen Sohn mit.
    Sigurður und Magga werden kein Ehepaar, obwohl er ihr im letzten Jahr das Tuch geschenkt hat. Um die Weihnachtszeitherum wurde es eng in Ninnas Bett, und Mitte März brachte Magga einen Jungen zur Welt, der laut und lange schrie. Niemand spricht darüber, wer der Vater ist. Sogar die alte Kristbjörg hält den Mund.
    Im Alter von ein paar Tagen wurde der Junge auf den Namen Einar getauft. Er war gesund und wohlgenährt und schlief bis zum Frühling zwischen Ninna und Magga.
    Papa setzt Magga auf ein Pferd. Sie geht auf einen Hof weiter im Osten des Bezirks. Sigurður begleitet sie. Ich spüre Maggas tränennasse Wangen an den meinen. Rieche noch ihren Duft. Einen besseren Duft habe ich an keinem Menschen gerochen.
    Stehe draußen, sehe, als es Abend wird, Sigurður den Weg zum Hof hinaufreiten, und auch den kleinen Pálmar, der in den Wolken über dem Gletscher auftaucht. Den ganzen Tag über hatte ich gehofft, dass Magga mit Sigurður zurückkommt. Aber jetzt schläft in ihrem Bett Halldóra mit dem Wicht, Þórarinn, der genauso alt ist wie ich, einen Kopf kleiner und zu allem Übel noch rothaarig. Und er hat abstehende Ohren. Maggas Duft ist verschwunden.
    Meine Schwester Ninna ist mit dem kleinen Einar in das Bett gegenüber von Papa und Mutter umgezogen. Mutter kümmert sich um Einar, wenn er nachts unruhig ist.
    Seit ich denken kann, bin ich Papa wie ein Schatten gefolgt. Er hat mir Geschichten über Helden und Geächtete erzählt, von alten Kriegern vorgelesen, mir gezeigt, wie man der Natur lauscht und den Gletscher richtig sieht. Und er hat mir alles über Kräuter beigebracht.
    Er trägt Balladen vor, spielt Akkordeon und gibt mir Rechenaufgaben – er ist nämlich auf der Lateinschule gewesen.Er sagt, dass überall um uns herum unsichtbare Wesen seien, einige gut, andere nicht. Manchmal schnuppert er in der Luft herum, verzieht sein Gesicht und spuckt. Wenn ich frage, warum er sich so aufführt, antwortet er kaum. Sagt, dass er böse Geister vertrieben habe. Manchmal geht er auch mit Sensen nach draußen, rammt sie in den Boden und lässt alle in dieselbe Richtung zeigen. Auch die Rechenzinken. Macht das, um etwas vom Hof fernzuhalten, will aber nicht sagen, was es
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