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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels
Autoren: Anika Lüders
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ließ ihn schweigen.Kristbjörg lobt Mutter von früh bis spät und noch bevor man sich’s versieht, aufgestanden, um ihr zu helfen. Sie macht Nickerchen und tut das unter Mutters schützender Hand. Kristbjörg ist unberührbar geworden und scheint zum allerersten Mal das Leben zu genießen.
    Ich lege mich ins Zeug, den Katechismus zu lernen, und kann schon lange Verse auswendig, obwohl ich sie kein bisschen verstehe. Wer sich konfirmieren lässt, muss den Katechismus kennen. Þórarinn will auch konfirmiert werden und brütet genervt über dem Buch, wann immer er freihat. Im Winter hat der Pfarrer uns einen Besuch abgestattet. Als er anfing, mich abzufragen, strömte es wie ein Wasserstrahl aus mir heraus. Der Pfarrer lobte mich in den Himmel und sagte, dass er sich darauf freue, mich in den Kreis der Christen aufnehmen zu können. Zu Þórarinn, der stinkwütend darüber war, wie schlecht es bei ihm gelaufen war, sagte er nichts dergleichen. Þórarinn verfluchte den Pfarrer und zeigte ihm eine lange Nase, als er den Weg vom Hof hinunterritt. Die alte Kristbjörg hat noch nie so viele hässliche Dinge von sich gegeben wie Þórarinn an diesem Tag.
    «Willst du den Hof mit deinen Flüchen versenken, du Höllenjunge?», schrie ich, schlug aber die Hände vor den Mund, als ich begriff, was ich gesagt hatte. Er verstummte. Hatte sicher gedacht, dass ich nicht fluchen könne.
    Þórarinn muss konfirmiert werden. Er will im nächsten Winter auf See, und unkonfirmiert wird ihn kein Kapitän nehmen.
    «Möchtest du wirklich auf See?», frage ich. «Wo doch dein Vater ertrunken ist.»
    «Jedenfalls lieber, als mich noch einen Winter lang vomHöllengemeindevorsteher prügeln zu lassen», antwortet er mit zusammengebissenen Zähnen, und ich zucke zusammen, als ich ihn so über Papa reden höre.
    Wir gehen zu Fuß zum Konfirmandenunterricht. Gehen am Skriðuberg vorbei, laufen aus alter Gewohnheit schnell, auch wenn wir wissen, dass im Winter weniger Steine vom Berg stürzen. Es liegt kaum Schnee, und daher sind auch Lawinen keine wirkliche Gefahr. Unterwegs frage ich Þórarinn ab. Halldóra hat mich darum gebeten, und ich will ihr nichts abschlagen.
    Oft ist es richtig lustig. Þórarinn verflucht entweder den Katechismus, oder er lacht sich über alles kaputt, und ich kann nicht anders, als mitzulachen. Es ist schön, zu lachen, dann ist es, als würde sich etwas in der Brust lösen, und ich werde so leicht. Mit niemandem lache ich so fröhlich wie mit Þórarinn.
    Beim Pfarrer treffen wir andere Konfirmanden. Sieben Mädchen und vier Jungen. Ich bin am größten und habe die hellsten Haare. Viele der Kinder kennen nur ganz wenige Psalmen. Ich kenne alles, was gesungen wird, und Þórarinn vieles. Wir lernen von Mutter, die bei der Arbeit ununterbrochen singt. Ich sehe, wie sich Þórarinns Augenbrauen immer weiter heben, je mehr wir singen. Sein Lachen und die abstehenden Ohren werden fast eins.
    Ich erfahre Neuigkeiten über Magd Magga. Sie ist auf demselben Hof wie Þórgunnur aus unserer Gruppe. Ich bitte sie, Grüße auszurichten, und frage Þórgunnur Löcher in den Bauch, aber sie antwortet kaum, weicht meist aus. Die anderen Kinder stehen im Kreis um uns herum. Still. Neugierig. Istes bloß ein Hirngespinst, dass sie grinsen? Ist es Einbildung, dass sich einige freuen? Eine Stimme aus der Gruppe fragt mich, ob ich nicht auch an Neuigkeiten über Magnea interessiert sei. Was? Wer ist Magnea?
    «Na ja, die Magd auf dem Bali-Hof, die kurz vorm Winter einen Sohn bekommen hat», ruft einer vorlaut.
    «Und die gesagt hat, wer der Vater ist», zwitschert ein anderer.
    «Willst du mehr wissen?» Die Gruppe bricht in gemeines Gelächter aus.
    Ich merke, wie die Röte in meine Wangen schießt und die Knie zu zittern anfangen, doch Þórarinn fragt schnell, ob nicht jemand mit ihm ringen wolle. Im Handumdrehen sind die Jungen in eine Rauferei auf dem Hofplatz verwickelt und lassen erst voneinander ab, als der Pfarrer dazwischengeht. Magga haben alle außer mir vergessen. Magnea auch.
    Nachdem wir uns gestärkt haben, machen wir uns auf den Heimweg. Den ganzen Weg über sage ich kein Wort, schaffe es nicht, Þórarinn abzufragen, habe kaum Kraft, mich in Bewegung zu halten. Kann sein, dass Þórarinn versucht, mir etwas zu sagen. Er macht das übervorsichtig, gebraucht Papa gegenüber kein einziges Schimpfwort, doch ich gehe einfach schneller. Will nichts hören.
    Unzählige Gedanken schießen mir durch den Kopf: Du sollst
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