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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels
Autoren: Anika Lüders
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draußen. Mit roten Augen schleppt sie sich hustend zum Fischstein, sinkt darauf nieder, schlägt um sich und flucht.
    Ich gehe in ihre Nähe und spitze die Ohren. Wir dürfen nicht fluchen. Beginnen den Tag, indem wir auf den Hof treten, uns in Richtung Osten drehen, verneigen und bekreuzigen. Dann sprechen wir Morgengebete. Den restlichen Tag über müssen wir artig und bis zum Schlafengehen Gott ergeben sein.
    Ich höre genau zu. Jetzt sind Kristbjörgs Flüche so wüst, dass mich ein Wonneschauder durchströmt.
    «In die tiefste, heißeste Hölle damit, im Sumpfloch des Teufels soll es schmoren und im siebten Fegefeuer beim Todesengel verrecken!»
    Sie schlägt die Fäuste gegeneinander und flucht, was das Zeug hält, während der Husten versucht, sie zu ersticken. Kristbjörg hat noch andere Begabungen neben dem Fluchen. Sie erzählt Geschichten von Trollen, die so stark sind, dass sich einem die Haare aufstellen.
    Als Nächste rast Magd Magga nach draußen. Sie ist flink, und im Tumult haben sich ihre langen Zöpfe gelöst. Sie wirbelt sie durch die Luft, um die Rauchwolke von ihrem Gesicht zu vertreiben. Mutter hält immer länger aus als die anderen. Sie bewegt sich langsam und schweigt mit großen, schwermütigen Augen.
    Ich möchte sie umarmen und an mich drücken. Sehen, wie sich ihre Augen verändern. Ich tue es aber nicht, finde, dass sie viel öfter gelacht hat, als ich noch klein war. Erinnere mich an schallendes Lachen. Einmal habe ich nachts von Mutter geträumt, in einem hellen Kleid und mit Blumen im Haar. Und sie hat laut gelacht.
    Mutter kümmert sich um alles und trägt die Verantwortung. Wenn man sie mit Fragen nervt, schlägt sie einem vor, das Strickzeug in die Hand zu nehmen oder die Zuber zu schrubben. Deshalb halte ich mich zurück und warte auf die Gelegenheit, Papa zu fragen, wenn er nach Hause kommt. Mutter erzählt nie Geschichten, dafür singt sie bei der Arbeit, singt überall, nur nicht in der Vorratskammer. In Vorratskammerndarf man nicht singen, das bringt Unglück. Mutters Gesang tönt über den ganzen Hof, und aus ihm hören wir heraus, wie es ihr geht. Wenn sie
Den tapre Landsoldat
singt, geht es ihr gut, aber wenn Psalmen oder lange Gedichte zu hören sind, ist es besser, sich zu verdrücken.
    Es dämmert, als das Monster über den Hof kommt, breit und auf kurzen Beinen, mit einem riesigen Kamm, und es rasselt laut bei jeder Bewegung. Es nimmt Witterung auf, reckt den Schädel und zeigt große Zähne. Jetzt sehe ich, dass da nicht ein Kopf ist, sondern zwei. Dann versucht es, sich ins Haus zu quetschen. Der Türrahmen hält dem Druck nicht stand, das Ungeheuer sprengt ihn und das Dach gleich mit. Die ganze Zeit über starrt mich die Kreatur mit stechenden Augen an, mit zwei, vier, acht, sechzehn? Ich versuche, zu rennen, bin aber wie im Boden verankert. Da packt es mich …
    «Hör mit dem Herumgewälze auf und lieg still», höre ich und bekomme einen Ellenbogenstoß in die Seite. Ich schrecke hoch, die Köpfe sind weg, die Augen auch.
    «Geh auf den Topf, Mädchen, du musst sicher mal», murmelt Kristbjörg im Halbschlaf. Ich klettere über sie und finde den Holztopf. Doch das Einschlafen gelingt mir nicht, und ich flüstere Kristbjörg meinen Traum zu.
    «Eine rasselnde Kreatur mit riesigem Kamm», brummt sie vor sich hin. «Dass du das nie auch nur einem einzigen Menschen zu Ohren kommen lässt.»
    «Warum nicht?»
    «Seeungeheuer», antwortet sie, und das sagt alles. Ich weiß, dass sich viele schreckliche Exemplare davon im Meer herumtreiben. «Und wenn es einen Kamm hat! Gott steh uns bei», brummt sie weiter.
    «Was meinst du damit?»
    «Ein schlechtes Omen, ein schreckliches Omen!»
    Ich will vieles fragen, aber sie sagt nur barsch, dass mein Leben davon abhänge, dass ich so täte, als wenn nichts wäre, weil die Kreaturen durchs Gerede erst recht herbeibeschworen würden. Da schnarcht sie schon wieder, ich aber liege schweißkalt, bis ich gegen Morgen endlich einnicke.
    In den nächsten Tagen finde ich keine Ruhe. Kristbjörg behauptet, je weniger ich an den Vorboten dächte, desto besser. Und ich dürfe ihn keinesfalls erwähnen. Dann sieht sie mich mit zusammengekniffenen Augen an und sagt todernst: «Und ich weiß, wovon ich spreche, armes Ding.»
    Am Ende des Winters kommt ein Wanderlehrer, der Guðmundur heißt. Beim Lesen bin ich viel fleißiger als meine Schwester Gauja. Der Katechismus ist nicht so spannend, aber wenn man ihn schnell genug liest, geht es.
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