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Im Schatten des Vogels

Im Schatten des Vogels

Titel: Im Schatten des Vogels
Autoren: Anika Lüders
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aufzulachen. Bevor du antworten kannst, sieht sie dich scharf an und sagt: «Meine Güte, was bist du ausgemergelt, Mädchen. Haben sie dir nichts zu essen gegeben?»
    «Doch, mehr als genug. Viel zu viel!» Du lächelst sie an. «Jetzt ziehst du saubere Kleider an, Mütterchen. Vielleicht gehst du dann mit mir hinunter in die Wohnstube. Du wirst doch ganz ruhig sein, oder?»
    «Ich bin ganz ruhig. Es ist bloß dein Vater, der sich nicht im Griff hat.»
    «Warum werde ich eingesperrt? Ich will raus! Vigfús, hörst du mich? Was treibst du jetzt? Rennst hinter den alten Huren her? Sie können weder stricken noch nähen. Waren nicht wie ich auf der Mädchenschule. Und haben nicht Orgel gelernt bei Madam Poulsen, die mir auch Dänisch beigebracht hat. Nei, det har de ikke! De snakker ikke dansk!»
    Det var en lørdag aften
jeg sad og vented’ dig,
det var en lørdag aften
jeg sad og vented’ dig,
du loved’ mig at komme vist,
men kom dog ej til mig,
du loved’ mig at komme vist,
men kom dog ej til mig.
    Jeg lagde mig på sengen,
og græd så bitterlig …
    Es war ein Samstagabend,
ich saß und wartete auf dich,
es war ein Samstagabend,
ich saß und wartete auf dich,
du versprachst mir fest zu kommen,
aber ließest mich doch im Stich,
du versprachst mir fest zu kommen,
aber ließest mich doch im Stich.
    Ich legte mich ins Bett
und weinte so bitterlich …
    Diese verdammten nymphomanischen Hummeln, alle sind sie hinter dem Kerl her. Lass mich raus, Vigfús!»
    Du gehst einen Tag nach dem anderen an und das Licht hilft dir. Wärmt Anna, Þorgerður, Vater und vor allem Mutter. Es fällt dir leicht, mit ihr zu reden. Deswegen bittet Vater meist dich, nach ihr zu sehen. Vieles, worüber ihr beide lacht, erträgt sie bei ihm ganz und gar nicht.
    Du wäschst und ziehst sie an. Beziehst das Bett frisch. Versorgst sie mit Medikamenten. Gibst ihr zu essen. Für gewöhnlich geht sie danach wieder brav hinein, wenn du versprichst, ihr vorzulesen, von Reykjavík zu erzählen oder mit ihr zu singen. Dann kommt Ruhe über sie, und sie, schläft ein. Auch Ingi kommt gut mit ihr zurecht. Sie ist immer lieb zu ihm. Eigentlich ist sie zu allen lieb, bis auf Vater.
    Er sagt, dass sie den letzten Anfall bald überwunden habe und dass dann viel Zeit vergehen könne, bis sie das nächste Mal krank werde, wenn sie sich erst richtig erholt habe.
    «Trotz allem ist das nicht gewiss», seufzt er. «Nichts ist sicher im Zusammenhang mit dieser Krankheit. Aber die Schwankungen sind berechenbarer geworden.»
    «Darf sie denn jetzt nicht raus aus dem Verschlag?», fragst duvorsichtig. Du hättest sie schon längst rausgelassen, willst aber, dass er entscheidet.
    «Geben wir dem Ganzen noch ein paar zusätzliche Tage», sagt er und streicht sich über die Stirn. «Um ganz sicher zu sein.»
    Du möchtest Mutter für immer und ewig aus dem Verschlag befreien, verlierst darüber aber Vater gegenüber kein Wort.
    «Diese Nachthemden bringen mich noch um! So zerschlissen und hässlich. Ich will kein Nachthemd tragen! Warum ziehe ich kein richtiges Kleid an? Wo ist das neue Kleid, das ich in Reykjavík genäht habe? Ich will das neue Kleid anziehen!»
    Will nicht wie ein armer Schlucker sein. Die Gemeindevorstehertochter muss gut aussehen. Papa hat gesagt, dass wir schön sind, seine Mädchen!
    «Lasst mich raus … Dieses verfluchte Eingesperrtsein die ganze Zeit!»
    O Wonne, Jesus zu haben
als Freund in Not so groß.
O Glück, dass ich darf betten
den Kopf in Gottes Schoß.
O Gnade, bei Unglück zu landen
auf deinem Wege bloß,
blind kannst immer werfen
Hoffnung und Sorg in Gottes Schoß.
    «Geh hinauf und lies Mutter etwas vor», bittest du Þorgerður. «Und nimm ihre Gedichtbände mit. Daran hat sie Freude. Ich mache den Abwasch fertig.»
    «Sie kann alle Gedichte und murmelt sie mit. Man muss sie nicht vorlesen», antwortet Þorgerður stur.
    «Hab dich nicht so – sie freut sich, dich zu sehen. Und du liest doch so gut!»
    «Hab dich selbst nicht so», antwortet Þorgerður und wirft das Geschirrtuch auf den Boden.
    Du bückst dich und hebst es auf. Dann umarmst du sie. Merkst, wie sie weich wird in deinem Arm, hörst ein unterdrücktes Schluchzen. Das Geschrei und der Lärm im Obergeschoss nehmen zu.
    «Schon gut», flüsterst du. «Mein fleißiges Mädchen, nun geh einen Augenblick zu ihr. Danach hast du frei.»
    «Es macht keinen Spaß, freizuhaben. Die Mädchen vom unteren Hof wollen nicht mit mir zusammen sein», sagt sie und weint.
    «Ach,
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