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Im Schatten des Vaters

Im Schatten des Vaters

Titel: Im Schatten des Vaters
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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seinen Knochen überall. Selbst als der Beweis vor ihm lag, glaubte er nichts und sah nichts. Und jetzt war er auf der Flucht, bildete sich ein, weglaufen, dem Gesetz und seiner Strafe entgehen und irgendwo ein traumhaftes Leben führen zu können, Mangos und Kokosnüsse verspeisend wie Robinson Crusoe, als wäre nichts passiert, als hätte sein Sohn nichts getan, als wäre er völlig unbeteiligt gewesen. Aber so konnte es nicht ausgehen, das wusste er jetzt, und er wusste auch, was er zu tun hatte.
    Jim verließ seine Koje und ging ins Ruderhaus. Chuck saß zurückgelehnt im Kapitänssessel und blätterte in einem Pornoheft. Er hob kurz den Kopf und fragte, Was willst du?
    Wir müssen zurück, sagte Jim. Ich kann nicht weglaufen. Ich werde mich stellen.
    Chuck sah ihn weiter an, und Jim hatte keine Ahnung, was er dachte. Du willst dich also stellen, sagte Chuck schließlich.
    Genau.
    Und was ist mit uns? Wir haben dir aus der Stadt rausgeholfen, schon vergessen?
    Jim wusste nicht recht, was er machen sollte. Okay, du hast recht, sagte er. Ihr bekommt die ganze Summe, und ich warte ein paar Tage, bis ihr weg seid.
    Chuck widmete sich wieder seinem Heftchen. Ist gut, sagte er. Weck Ned auf für die nächste Wache, bevor du dich wieder hinhaust.
    Jim weckte Ned, der sich beschwerte, dass es zu früh sei. Jim legte sich wieder hin und versuchte zu schlafen. Beim Einnicken probte er sein Geständnis. Ich, Jim Fenn, habe meinen Sohn, Roy Fenn, umgebracht, im letzten Herbst vor etwa neun Monaten. Ich habe ihm aus nächster Nähe mit meiner Pistole, einer 44er Ruger Magnum, die, glaube ich, vom Sheriff sichergestellt wurde, in den Kopf geschossen. Ich war selbstmordgefährdet und hatte über Funk mit meiner Exfrau Rhoda gesprochen, die sagte, dass sie nicht mehr mit mir zusammensein will und vorhat, einen anderen Mann zu heiraten, ich habe das nicht mehr ausgehalten und war zu feige, mich umzubringen, und habe stattdessen meinen Sohn umgebracht.
    Das stimmte nicht ganz. Er überdachte noch einmal seine Motive, denn die würden sie ganz bestimmt hinterfragen. Er ging jedes belastende Detail durch, immer wieder, die Pistole, die Funkgeräte, alles. Er war so erschöpft, dass er nicht klar denken konnte. Sein Gehirn hatte ausgesetzt, und sein Körper fühlte sich winzig an, als wäre er ein Kind. Ein winzigesgoldenes Kind, das seinen Körper nach und nach an Fäden zu sich hinzog. Er war dabei, zu verschwinden.
    Jim wachte mit einem Strick um den Hals auf, an dem er aus der Koje gezerrt wurde. Er versuchte vergeblich, zu schreien. Er lag auf dem Boden, stieß an ein Schott, rappelte sich hoch, dann sah er Ned mit einem Holzschläger auf seine Beine einprügeln. Er fiel hin, wurde mitgeschleift, sah kurz Chuck am anderen Strickende und wusste, das hätte er ahnen müssen. Es lag doch auf der Hand. Dann verlor er das Bewusstsein.
    Im kalten Wasser wachte er auf, und er wollte, dass sie ihn fanden und retteten. Wollte, dass Chuck und Ned ihn holten. Er zog am Strick und bekam ihn mühelos vom Hals, aber er trug noch seine Kleider, wurde hinabgezogen, sank, und er hatte keine Schwimmweste. Er tat sich unendlich leid. Das offene Meer sah einschüchternd aus. Überall formten sich Gipfel, ragten auf, verschwanden, Hügel wogten vorbei. Man konnte unmöglich glauben, dass es bloß Wasser war, auch unmöglich glauben, wie tief es unter ihm hinabging. Er kämpfte ewig, so schien es, in Wahrheit wohl etwa zehn Minuten, bevor er erstarrte und ermüdete und Wasser zu schlucken begann. Er dachte an Roy, der keine Chance gehabt hatte, dieses Grauen zu empfinden, Roy, dessen Tod gleich eingetreten war. Er erbrach Wasser und schluckte und atmete es wieder ein, es war das Ende, kalt und hart und unnötig, und da wusste er, dass Roy ihn geliebt hatte und dass ihm das hätte reichen müssen. Nichts hatte er rechtzeitig begriffen.
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