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Im Schatten des Vaters

Im Schatten des Vaters

Titel: Im Schatten des Vaters
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Sie tief in der Klemme stecken. Doch zunächst hätte ich gern gewusst, ob Sie mich überhaupt bezahlen können.
    Ich muss hier raus, sagte Jim. Gegen Kaution oder was auch immer. Das ist alles. Ist mir egal, was es kostet.
    Schön, sagte Norman. Dann weiß ich Bescheid.
     
    Es dauerte fast eine Woche, bis Jim dem Haftrichter vorgeführt wurde und gehen konnte. Er wollte nach Kalifornien fliegen, um Elizabeth und Tracy und Rhoda zu sehen und alles zu erklären, aber er war nur unter der Bedingung freigelassen worden, Ketchikan nicht zu verlassen, also nahm er ein Taxi zu einem Hotel im Zentrum, einer kleinen Klitsche namens Royal Executive Suites. Vor acht Jahren hatte sich Jim hier in Ketchikan mit dem Besitzer angefreundet, der damals ein junger Bursche war, frisch von der Fähre. Der Mann war hierher gezogen, und obwohl er Mormone warund Jim nicht, hatte Jim ihn zum Fischen mitgenommen, ihn bei sich wohnen lassen und ihm bei der Arbeitssuche geholfen. Er hieß Kirk und hatte jetzt keine Zeit für Jim, gab ihm aber ein Zimmer zum doppelten Preis.
    Jim blieb in seinem beheizten Zimmer, um zu telefonieren. Er rief Roys Mutter Elizabeth an, bekam aber nur den Anrufbeantworter. Nach dem Signalton stand er da mit dem Hörer in der Hand und hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Entschuldigung, sagte er schließlich und legte auf. Dann überlegte er, ob er Rhoda anrufen sollte, aber dem Gespräch fühlte er sich noch nicht gewachsen. Eigentlich fühlte er sich gar keinem Telefongespräch gewachsen, also ließ er es sein.
    Für den Rest des Tages saß er auf einem Stuhl am Fenster, sah aufs Wasser und hing losen Gedanken nach. In einem Tagtraum malte er sich aus, wie Roy angeschossen wurde und Jim die Täter zur Strecke brachte, einen nach dem anderen um die Hütte herum mit der Flinte abknallte, Roy danach zum Schlauchboot trug und zur nächsten Insel hinüberbretterte, wo er ein Fischerboot fand und Roy an Bord brachte. Sie legten ihn an Deck zum Rotlachs, und Jim drückte seinen Brustkorb, um ihn am Leben zu halten, bis der Hubschrauber kam und ihn mitnahm. Jim versuchte, dieses letzte Bild von Roy festzuhalten, wie er langsam auf einer Bahre über ihm kreiste und in Sicherheit gebracht wurde. Die Liebe zu Roy schmerzte in seiner Brust, und er war überwältigt von der Rettung seines Sohnes.
    Diesen Tagtraum konnte er jedoch nicht ewig festhalten, und bald darauf saß er einfach nur noch auf einem Stuhl am Fenster, an einem bedeckten Tag in einem beheizten Raum. Er sah auf seine bestrumpften Füße auf dem sauberen beigen Teppich und auf die cremeweißen Wände und die gespachtelte Zimmerdecke und hinunter auf das stümperhafte Aquarellvom Fischer, der sein Netz einholt. Er wollte mit seinem Bruder sprechen oder mit Rhoda, konnte sich aber nicht vorstellen, sie anzurufen. Als er vor Hunger nicht mehr dasitzen konnte, zog er sich warm an und wappnete sich, dem Volk von Ketchikan zu begegnen.
    Jim lief grußlos durchs Foyer und ging in ein Restaurant auf der anderen Straßenseite, in dem man Fish and Chips essen konnte. Er setzte sich in eine Ecknische und starrte auf seine verkrampften Hände. Als die Kellnerin endlich zu ihm an den Tisch kam, schien sie ihn nicht wiederzuerkennen, obwohl er sie noch von damals kannte. Auch schien er noch nicht berühmt zu sein für das, was auf den Inseln passiert war. Er hatte gedacht, die ganze Geschichte würde vielleicht mehr Aufmerksamkeit erregen.
    Jim trommelte mit den Fingern auf die rote Resopalplatte und wartete und nippte an seinem Wasser und fragte sich, wie es eigentlich so weit gekommen war, dass er keine Freunde mehr hatte. Keiner kam hergeflogen, um ihn zu besuchen oder die Zeit mit ihm durchzustehen. John Lampson in Williams und Tom Kalfsbeck in Lower Lake: Er hatte sie noch nicht angerufen, also wussten sie nicht Bescheid, aber er war sich ziemlich sicher, dass sie selbst dann nicht kommen würden. Und auch das hatte mit den Frauen zu tun. Er war die vergangenen Jahre so besessen gewesen von Rhoda, dass er den Kontakt zu seinen Freunden in Kalifornien verloren und in Fairbanks keine neuen Bekanntschaften geschlossen hatte. Er hatte gearbeitet und Dinge gekauft und telefoniert und Prostituierte aufgesucht und ein paarmal mit anderen Zahnärzten oder Kieferorthopäden und ihren Ehefrauen zu Abend gegessen, aber mehr nicht. Dass er so tief gesunken war, überraschte ihn nicht. Er hatte sich von allen abgeschirmt und dem hingegeben, was er für Liebe gehalten hatte,
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