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Im Schatten des Vaters

Im Schatten des Vaters

Titel: Im Schatten des Vaters
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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jedoch nurSehnsucht war, eine Krankheit, die überhaupt nichts mit Rhoda zu tun hatte. Erst dieser Vorfall hatte ihn aufgerüttelt, ihm die Augen geöffnet. Sein Sohn musste sich umbringen, damit er sein Leben zurückbekam. Nur funktionierte auch das nicht, weil der Selbstmord seines Sohnes nicht das einzige Problem war.
    Jim hielt die Tränen zurück, so gut er konnte, aus Angst, dass man es bemerken und ihn für schuldig halten würde, wobei die Menschen seine wahren Verbrechen unmöglich kennen konnten – nicht die naheliegenden wie Mord, sondern viel schwerwiegendere.
    Endlich brachte ihm die Kellnerin das Essen, und er aß, obwohl es nach nichts schmeckte und er nur an Roy denken konnte.
    Spätabends ging er noch einmal raus und spazierte am Wasser entlang. Er lief am Zentrum vorbei, wo er seine Praxis gehabt hatte, und weiter ins Rotlichtviertel, das jetzt gewissermaßen konserviert und in lauter kleine Souvenirläden umgewandelt wurde. Die kleinen Holzbauten säumten in bedenklicher Schräglage das Ufer des schmalen Flusses. Von der Brücke aus betrachtete er sie und versuchte sich vorzustellen, wie das Leben hier vor seiner Geburt ausgesehen hatte. Aber genau das war ihm noch nie gelungen, sich in ein anderes Leben hineinzuversetzen.
    Am Morgen klopfte es an seiner Zimmertür, und als er öffnete, standen Elizabeth und seine Tochter Tracy vor ihm.
    Wow, sagte er. Mein Gott, euch habe ich nicht erwartet.
    Ach Jim, sagte Elizabeth und schlang zum ersten Mal seit Jahren die Arme um ihn. Das fühlte sich unglaublich gut an. Dann beugte er sich zu Tracy hinunter und umarmte sie. Sie hatte geweint und sah erschöpft aus. Jim wusste nicht, was er sagen sollte.
    Kommt rein, sagte er. Sie folgten ihm und setzten sich auf die Couch.
    Tracy fing an zu weinen. Elizabeth hielt sie fest und küsste sie auf den Kopf, dann sah sie Jim an und fragte, Was ist da draußen passiert, Jim?
    Ich weiß es nicht, sagte Jim. Ganz ehrlich, ich weiß es nicht.
    Wirklich nicht? Aber dann fing sie an zu weinen, und Tracy weinte, und sie gingen. Elizabeth versprach, dass sie später wiederkommen würden.
    Also wartete Jim, saß auf einem Stuhl, blickte auf die Tür des Hotelzimmers und konnte nicht glauben, dass sie in der Stadt waren. Er war schon so lange weg, und noch unglaublicher war, dass sie alle hier in Ketchikan waren, alle zusammen, außer Roy natürlich, und dann setzten seine Gedanken wieder aus. Das war alles zu viel. Er hatte große Angst, aber eigentlich keine Ahnung, wovor genau.
    Als Elizabeth und Tracy schließlich wiederkamen, war die Essenszeit schon vorüber, aber sie hatten keinen Hunger, also saßen sie schweigend im Zimmer, und Jim wollte seine Familie und sein Leben zurück und stellte sich immer wieder vor, wie Roy einfach zur Tür hereinspaziert kam.
    Hast du ihn umgebracht?, fragte Elizabeth und verlor sich in furchtbaren, hässlichen lauten Schluchzern, die auch Tracy wieder ansteckten. Jim weinte nicht; er kalkulierte, suchte einen Weg, um die beiden zurückzubekommen, und fand ihn nicht.
    Es tut mir leid, sagte er. Ich hatte die ganze Zeit Angst, dass ich mich umbringe. Er hat sich um mich gekümmert. Dann hat er mich überrumpelt und sich umgebracht.
    Was ist passiert, Jim?
    Ich habe ihm die Pistole gegeben, als ich zur Tür raus bin. Er sollte sie ja nicht benutzen.
    Du hast ihm die Pistole gegeben?
    Jim erkannte, dass er ihr das nicht hätte erzählen sollen. Das war keine böse Absicht, sagte er.
    Du hast ihm die Pistole gegeben? Da stand Elizabeth auf, durchquerte das Zimmer und schlug ihn, mit Wucht, und er sah Tracy an, die mit einem schrecklich starren Ausdruck im Gesicht zusah, und dann waren sie weg, und er wartete den Abend und den nächsten Morgen darauf, dass sie zurückkämen, und als sie nicht kamen, lief er suchend durch die Stadt und fand schließlich ihr Hotel, aber sie hatten bereits ausgecheckt. Er suchte bis zum Abend, dann fiel ihm ein, dass er die Fluggesellschaft anrufen könnte, da lief aber nur ein Band, also musste er bis zum Morgen warten, an dem er erfuhr, dass sie nach Kalifornien zurückgeflogen waren, mit Roys sterblichen Überresten.
    Jim rief Elizabeth immer wieder an, und eines Tages rief sie zurück. Er versuchte sich zu erklären, aber sie hörte ihm nicht zu.
    Ich verstehe das nicht, Jim, sagte sie. Ich werde das nie verstehen. Wie mein Sohn zu dem Jungen wurde, der sich das angetan hat. Was du ihm angetan hast, dass er so wurde. Und dann legte sie auf und ging tagelang
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