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Im Schatten des Vaters

Im Schatten des Vaters

Titel: Im Schatten des Vaters
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Wellen oder Landstriche erkennen, konnte fast eine halbe Stunde lang nichts sehen, bis der Tag sich wieder mit Dingen füllte, das Land wieder Land wurde, Wellen eine Entfernung hatten und er überall auf ihnen Boote sah. Die Oberfläche noch immer undurchdringlich, grauweiß, eine dichte Membran. Das Boot schlingerte träge bei acht, neun Knoten, Haines war jetzt weit weg oder nicht mehr da, nicht mehr zu sehen.
    Um acht, als Ned Chuck ablöste und einen ganzen Karton Donuts verputzte, fuhren sie an einem Ort vorbei, den Jim für Juneau gehalten hatte, aber es war erst Point Bridget State Park, wie er auf der Karte sah, mit Juneau verbunden durch einen schmalen Highway.
    Wenn du Karten lesen kannst, kannst du uns auch mal ablösen, sagte Ned.
    Ist gut, sagte Jim. Dann bin ich als Nächster dran.
    Kurz darauf hätte Jim durch den Favorite Channel und wenig später durch den Saginaw Channel hindurch Juneau erblicken können, aber er sah im Grunde nichts. Sie kamennicht sehr nah ran, und es sah nach nichts aus. Um die Mittagszeit übernahm Jim erschöpft das Ruder, sie waren um Couverden Island herum und hielten westlich auf die Icy Strait zu.
    Er schmunzelte, als er die Icy Strait erreichte, denn es wurde tatsächlich viel kälter. Das war eigentlich ein Witz. Die Kälte kroch sogar durch die kleinen Risse und Luftlöcher ins Ruderhaus.
    Die Meerenge war riesig – mindestens acht Kilometer breit –, aber es herrschte eine Menge Verkehr. Einige Kajütboote und zwei Segelboote, vor allem aber viele kommerzielle Lachs- und Heilbuttfischer und einige Schlepper mit Ladung, die sie weit hinter sich herzogen. Die musste er im Voraus einkalkulieren. Er war ein so langsames Boot nicht gewohnt, er konnte damit einfach nicht schnell genug ausweichen. Und das VHF schaltete er nicht ein, weil er keine Aufmerksamkeit wollte.
    Gegen drei passierten sie Pleasant Island, dann Point Gustavus und der Wind heulte vom Glacier Bay nach Norden, durch die Sitakaday Narrows.
    Als sie wenig später Dundas Bay passierten, die nächste kleine Bucht, sah er einen großen Kreuzer der Küstenwache hinter den Inian Islands vorbeifahren und wurde panisch. Wenn sie an Bord kämen, um wie üblich die Sicherheitsausrüstung zu überprüfen und nach Drogen zu suchen, wäre er dran. Er vertraute nicht darauf, dass Chuck oder Ned ihn decken würden. Er hatte sogar Angst, sich schlafen zu legen, obwohl er sich inzwischen kaum noch auf den Beinen halten konnte. Die Küstenwache fuhr auf der anderen Seite der nördlichsten Insel vorbei und verschwand in der nächsten Bucht. Jim hielt möglichst viel Abstand und wich zwischendurch in die Taylor Bay aus. Brady Glacier sah gewaltig aus,wie ein Ding aus einer anderen Zeit, in einem anderen Maßstab, der alles Heutige negierte, als könnte Jim unmöglich Jim sein, weil allein der Gedanke schon zu klein war, so augenblicklich wie das grelle Frühlicht. Neben dem Gletscher waren die Berge winzig.
    Der Wind fegte in Böen vom Gletscher hinunter und schaukelte das Boot, aber das war gut, es hielt ihn wach.
    Und dann war er draußen. Um acht fuhr er an Cape Spencer vorbei und hielt aufs offene Meer zu, weg von der Küste, weg von den Inseln und Südostalaska. Laut Karte wäre er in einer knappen Stunde aus US-Gewässern heraus. Er würde sie noch einmal kreuzen wegen des Grenzverlaufs, aber nur kurz. Eine Nacht noch und ein Tag, und er wäre so weit auf hoher See, dass ihn niemand fand und dass es niemanden mehr kümmerte. Dann trat er in ein anderes Leben ein.
    Und wieder dachte er an Roy. Er konnte offenbar gar nicht anders. Nichts ahnend ließ er die Gedanken schweifen, und plötzlich sah er die Pistole vor sich und wie er sie Roy reichte, oder wie er in die Hütte kam und Roy fand, beziehungsweise das, was von ihm übrig war. Und dann dachte er an den Schlafsack und überlegte, was mit ihm geschehen sein mochte. Sie hatten ihn mitsamt Roys Leiche in dem Klarsichtsack mitgenommen, denn sie hatten nicht gewagt, ihn auszuschütten. Es war unerträglich, in dieser Weise an ihn zu denken, aber was hätten sie tun sollen? Früher oder später mussten sie es getan haben, irgendwann vor der Beerdigung. Aber wer? Wer hatte ihn ausgeschüttet? Und was hatte Elizabeth gesehen? Und seine Tochter Tracy? Vielleicht sah er sie nie wieder. Er hatte auch sie verloren.
    Der Golf von Alaska war sehr kalt. Es wehte ein kräftiger Wind, und die Wellen waren jetzt groß und hektisch, Dünung und Windwellen, die um ihn herum brandeten
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