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Im Schatten des Kreml

Im Schatten des Kreml

Titel: Im Schatten des Kreml
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Land zerstört und versucht, sein eigenes Volk auszulöschen. Erzähl du mir nicht, wer hier der Böse ist und wer nicht.«
    Ich kann mich nicht daran erinnern, ihm jemals irgendeinen diesbezüglichen Vortrag gehalten zu haben. Vielleicht war ich vor Schmerzen so benebelt, dass ich irgendetwas in der Art habe fallen lassen. Wahrscheinlich hat er aber gar nicht wirklich mit mir gesprochen, sondern nur der unerträglich gewordenen Stimme in seinem Kopf geantwortet, denn plötzlich klang er wieder anders, fast resigniert.
    »Wenn du mich hören kannst, schau mich an. Schau mich noch einmal an.«
    Seine Worte waren eher eine Bitte als ein Befehl und klangen so seltsam, dass ich tat, was er sagte. Immer noch schwankend breitete er die Arme wie zur Absolution aus, so kommt es mir im Nachhinein jedenfalls vor.
    »Kannst du mich sehen, Volkovoj? Kannst du dieses Etwas sehen, das Soldaten foltert, Krankenhäuser in Brand steckt und Schulen voller Kinder in die Luft jagt? Das bin nicht ich. Das bin nicht ich! Ihr habt dieses Etwas geschaffen. Und ich hasse es genauso wie ihr. Verstehst du das? Ich hasse es selbst!«
    Und das Merkwürdige ist, jetzt, unwiederbringliche Jahre später, verstehe ich, dass er mehr ist als die propagandistische Karikatur eines Monsters. Ich sehe Abreg, wie er einmal war – ein Journalist, Ehemann und Vater, dem die Freude in den Augen seines Sohnes entgegenstrahlte, als der Zauberer den Elefanten verschwinden ließ – , und ich sehe ihn als den Mann, der aus ihm wurde, der gefangen ist in unvorstellbarem Grauen und in all dem Bösen um ihn herum.
    »Zwei Minuten, Oberst«, sagt die Generalmajorin und blickt auf einen leuchtenden Knopf auf der Konsole.
    Ich stelle mir einen warmen Raum vor. Decken an den Wänden, Flaschen, die im Licht der Kerzen erstrahlen, Rauch von einem gusseisernen Ofen. Abreg, die Zwillinge und der Wahhabit sind dort. Und irgendwo in der Nähe ist Yusup und fährt sich mit der Zunge über seinen letzten Zahn, mit einem stoischen Gesichtsausdruck angesichts dessen, was ihn erwartet.
    Ich lasse meine Gedanken über die Gebirgszüge treiben, gleite auf Flügeln durch die kalte, halbmondbeschienene Luft, stoße schließlich hinab, in violette Täler hinein bis zu einer Scheune, aus der gelbe Lichtstreifen dringen. Valja ist dort, sie redet auf ihre eindringliche Art, leicht nach vorn gebeugt, die Lippen geöffnet, die Augen von innen heraus glühend, genau wie an jenem Abend vor Jahren, als wir hinter einer Brüstung auf dem Dach eines ausgebombten Hauses in Grosny kauerten; sie bat mich damals, einen gefangenen Separatisten am Leben zu lassen, einen komischen hoffnungsvollen Dichter.
    Du darfst ihn nicht töten, sagte sie. Es würde dich zu einem bösen Menschen machen.
    Valja, das Flüchtlingskind aus Allahs Bergen, rettete in jener Nacht mehr als ein Leben. Sie bewahrte mich vor dem Mann, der ich geworden wäre, und jetzt erkenne ich seinen verzerrten Schatten neben Abreg im Licht des Feuers.
    »Eine Minute noch, Oberst!«
    »Du musst das nicht tun, Volk«, sagt Matthews plötzlich, zu meiner großen Überraschung. Seine Stimme klingt laut, selbst gegen das Klappern der Tastaturen und die flüsternden Stimmen im Hintergrund.
    Ich gehe langsam nach vorn, bis ich neben der Pilotin stehe. Mein Körper blockiert das Licht, und durch den veränderten Kontrast wirkt das Bild oben an der Wand schärfer, die Linien und Schatten einer Welt voller Dunkelheit, einer Welt, aus der die Farbe für immer verbannt wurde. Gleich, wenn die Rakete abgeschossen ist, wird das Bild wackeln, erst vom plötzlichen Gewichtsverlust und dann vom Rückstoß. Und dann beruhigt es sich wieder, wenn der Techniker den Kurs der Drohne korrigiert und die Hauptkamera so adjustiert, dass sie die weiße Eruption aufnimmt – einen Todesstern, der wie eine Supernova über einer mit Eis bedeckten Hütte explodiert.
    Aus Gründen, die ich jetzt erst beginne zu verstehen, will Matthews nicht, dass Abreg stirbt, jedenfalls nicht hier und nicht jetzt. Matthews, der Amerikaner, glaubt an die Freiheit des Willens. Er glaubt, die Welt ließe sich nach Lust und Laune verändern. Aber ich bin Russe, ein Gefangener der Geschichte. Also drücke ich auf den Knopf und starte die Rakete.

58
    »Wer zum Teufel weiß noch, was richtig und was falsch ist?« Matthews legt seinen Schultergurt an und zieht die Riemen fest. »Die Welt ist ein komplizierter Ort.«
    Wir sind allein im tiefen Frachtraum eines Iljuschin-Transportflugzeugs,
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